Russland zerbombt im Krieg auch seine eigene Geschichte. Ein besonders facettenreiches und trauriges Beispiel dafür ist Mariupol‘.
Zu den eher ungewöhnlichen Galerien der Eremitage im ehemaligen Winterpalast in Sankt Petersburg gehört die „Kriegsgalerie“ (Voennaja galerija). Unmittelbar nach den napoleonischen Kriegen angelegt, zeigt sie die Porträts von mehr als 300 russischen Generälen, die am „Vaterländischen Krieg“ gegen Napoleon teilgenommen haben. Im zweiten Raum, auf der linken Seite in Reihe zwei, hängt das Porträt von General Aleksej Petrovič Melissino, der in der Schlacht von Dresden am 15. August 1813 fiel. Melissino ist eine interessante Persönlichkeit – nicht nur wegen seiner glänzenden militärischen Laufbahn, sondern auch aufgrund seiner Herkunft:[1] Er war griechischer Abstammung, und schon sein aus dem Osmanischen Reich eingewanderter Vater Peter (1724–1797) hatte als General dem russländischen Imperium gedient. Aleksej Melissino selbst kam 1759 in Petersburg auf die Welt, seine militärische Laufbahn ist aber mit jener Stadt verbunden, die im aktuellen Krieg Russlands gegen die Ukraine besonders traurige Bekanntheit erlang hat: Mariupol‘.
Dorthin wurde Melissino 1793 als Hauptmann entsandt. In weiterer Folge stieg er zum Kommandeur des Mariupoler Husarenregiments auf, das Ende des 18. Jahrhunderts u. a. gegen die Osmanen zum Einsatz kam. Während der napoleonischen Kriege tat sich das Mariupoler Regiment in mehreren Schlachten (von Austerlitz 1805 bis Dresden 1813) hervor und seine Mitglieder erhielten für ihren „Heldenmut“ zahlreiche Orden. Ein biographischer Beitrag über Melissino betont die „heroische Geschichte des Mariupoler Husarenregiments“, die den Ort Mariupol´ zu einem weithin bekannten und geachteten Begriff in der Armee Russlands gemacht habe.[2]
Zentrum des griechischen Lebens
Melissino, obwohl kein gebürtiger Mariupoler, steht aber nicht allein für die militärische Bedeutung der Hafenstadt, die 1779 gegründet wurde, nachdem Russland das Nordufer des Schwarzen Meer den Osmanen und Krimtataren abgenommen hatte, das sogenannte Neurussland (das heutige Gebietsansprüche Russlands beflügelt). Mariupol´ war auch ein Zentrum des griechischen Lebens.
Griechen siedeln am nördlichen Schwarzen Meer seit der Antike, hinzu kamen griechische Einwander*innen und Flüchtlinge aus dem Osmanischen Reich, so auch die Familie Melissino, die in Russland einen Beschützer der Orthodoxen sahen; zumal die im 18. Jahrhundert vom russischen Reich neu gewonnenen Gebiete in der heutigen Ukraine kaum noch bewohnt waren – die ethnische Vielfalt der Region erklärt sich durch die gezielte Ansiedlungspolitik des Zarenhauses. Bei der letzten ukrainischen Volkszählung 2001 deklarierten sich noch 4,3 Prozent der damals rund 490.000 Einwohner Mariupols als Griechen (und im gesamten Gebiet Donezk 1,6 Prozent).[3]
Die steile militärische Karriere Melissinos, aber auch der Aufstieg weiterer prominenter Griechen sowie anderer nicht-russischer Nationalitäten (man denke an die Baltendeutschen) verweist zugleich auf einen zentralen Unterschied des damaligen Russländischen Reiches und der Putin’schen Inkarnation der imperialen Idee: Lange Zeit setzte das Zarenreich auf die Inkorporation lokaler Eliten in neueroberten Gebieten und öffnete sich für Fachleute aus dem Ausland. Das heutige Russland baut in seinen Satelliten-De-facto-Staaten, wie auch in den sogenannten Volksrepubliken im Donbas, hingegen nicht auf die lokale Elite, sondern die kriminelle Unterwelt; in den besetzen Städten in der Ukraine werden Bürgermeister*innen nicht hofiert, sondern inhaftiert.
Im Zarenreich stand Mariupol´ also für militärische Erfolge gegen Napoleon und war damit eng mit einem mächtigen Legitimierungsmythos der politischen Herrschaft verbunden. In sowjetischer Zeit wurde die Stadt dann ein Symbol des Stalinismus, sowohl in ökonomischer als auch politischer Hinsicht.
Verfechter der Borniertheit
Zum einen wurde Mariupol‘ durch die forcierte Industrialisierung der 1930er transformiert (wobei es hier, am Südrand des Donbas, schon zuvor Industrie sowie seit 1882 eine Eisenbahnverbindung und in deren Gefolge einen modernen Hafen gegeben hatte). Die Bol’šaja Sovetskaja Enciklopedia, Ausgabe 1952, berichtet: „Es wurden eine Stahlrohfabrik errichtet, die nach V.V. Kujbyšev benannt wurde (1930), die metallurgische Fabrik Azovstal‘, benannt nach S. Ordžonikidze, … die koks-chemische Fabrik (1934), die Fabrik für Traktor-Radiatoren“, usw. (BSE, Bd. 15, 1952). Während des Zweiten Weltkriegs musste die Stadt eine fast dreijährige deutsche Besatzung erleiden, der die große jüdische Gemeinde zum Opfer fiel; Zehntausende wurden zur Zwangsarbeit ins Deutsche Reich verschleppt, ein Schicksal, das viele Menschen aus der Ukraine erlitten.
Zum anderen war die Stadt wegen ihres berühmtesten Sohns auch weit über die Region hinaus bekannt: Andrej Ždanov, 1896 geboren in Mariupol.
Ždanov war einer der besonders ergebenen Schergen Stalins, seit 1915 Mitglied der kommunistischen Partei, politischer Kommissar in der Roten Armee während des Bürgerkriegs und danach treuer Parteisoldat, der eine zentrale Rolle im Terror der „Großen Säuberung“ spielte, was ihm 1939 die Politbüromitgliedschaft einbrachte. 1940 war er an maßgeblicher Stelle an der sowjetischen Annexion Estlands beteiligt. Seit 1944 war er im Zentralkomitee für ideologische Fragen zuständig, bekleidete also das Amt des Chefpropagandisten, und setzte als solcher die Prinzipien des sozialistischen Realismus rigoros in der Kulturwelt um.[4] Der sog. Ždanovismus lehnte moderne Kunst („Formalismus“) sowie den Kosmopolitismus ab, huldigte ideologischer Borniertheit und war virulent anti-amerikanisch (er hätte also gut ins heutige Russland gepasst). Ždanov, der als Nachfolger Stalins gehandelt wurde, starb vor diesem, nämlich 1948. Seine Geburtsstadt kam darauf hin zur zweifelhaften Ehre, umbenannt zu werden, und trug bis 1989 den Namen Ždanov.
Doch diese enge Verbindung Mariupols mit jener Geschichte(n), auf die sich das Putinregime in seinen Ansprüchen auf die Ukraine stützt, konnte die Stadt nicht vor der Zerstörungswut der russischen Armee retten. Diese ist so groß, dass selbst das Stahlwerk, eines der größten Europas, weitgehend zerschossen wurde. Für Russlands Ziel, eine Landbrücke von der Krim zu den beiden selbsternannten „Volksrepubliken“ im Donbas zu schaffen sowie die Ukraine vom Schwarzen Meer abzuschneiden, ist die Kontrolle über Mariupol´ essenziell (zumal als Hafen für den Donbas). Aber warum dann diese Brutalität einer Belagerung, welche die Stadtbevölkerung aushungert, und ein Bombardement, das 80 Prozent der Gebäude Mariupols in Mitleidenschaft zog oder gänzlich zerstörte, inklusive einer Frauenklinik sowie des Theaters, das als Bombenschutzkeller fungierte? Adam Tooze spricht auf seinem Blog von „urbicide“, also der bewussten totalen Zerstörung der Stadt – eine Kriegstaktik, welche die russische Armee bereits 2000 in Grozny und 2016 in Aleppo anwandte.
Ob sich Putin der Geschichte Mariupols bewusst ist, wissen wir nicht. Wahrscheinlicher ist, dass er – wie die unabhängige Ukraine als solche – die erfolgreiche Befreiung Mariupols aus den Händen von pro-russischen Separatisten 2014 als persönlichen Affront sieht; zumal in der Befreiung das Azov-Regiment eine zentrale Rolle spielte, das für seine Nähe zur extremen Rechten bekannt war und in der russischen Propaganda als Neonazi-Truppe hingestellt wird sowie heute wesentlich zur Verteidigung Mariupols beiträgt. Wie die ukrainische Internetenzyklopädie schreibt, durchlief die Stadt nach 2014 einen Prozess der „Entkommunisierung“ der Straßennamen.[5] Auch so etwas stellt im Weltbild des Kremlherrschers wahrscheinlich ein Indiz des „Nazismus“ dar, den in der Ukraine zu bekämpfen er vorgibt. Als Resultat dieser Mischung aus Hass, Rache und imperialistischer Mission, die Putins Krieg gegen die Ukraine motiviert, bleibt von der Stadt am Asowschen Meer kaum etwas über; mehr als drei Viertel der Bevölkerung sind geflohen – auch das, so muss vermutet werden, ein Kriegsziel, denn es erleichtert die angestrebte Kontrolle über die Großstadt. Dass die Bevölkerung Mariupols mehrheitlich Russisch spricht, ist eine weitere bittere Ironie das Ukrainefeldzugs Putins.
[1] Interessant war Melissino obendrein aufgrund seiner Ehe mit einer Tochter es ehemaligen Fürsten der Walachei, Michael Cantacuzino, Sprössling einer einflussreichen Phanariotenfamilie
[2] Ju. D. Prjachin: Greki v istorii Rosii XVIII-XIX vekov. Sankt Peterbur 2008, S. 214f. Siehe auch: https://ru.wikisource.org/wiki/ ВЭ/ВТ/Мелиссино.
[3] http://2001.ukrcensus.gov.ua/eng/results/general/nationality/ Zur griechischen Präsenz in Mariupol und Umgebung siehe: Volker Pabst: Für Griechenland ist Mariupol mehr als nur eine ukrainische Stadt, Neue Zürcher Zeitung, 26.3.2022.
[4] Vgl. Gleb Struve: Geschichte der Sowjetliteratur. München 1957, S. 296ff.
[5] http://www.encyclopediaofukraine.com/display.asp?linkpath=pages%5CM%5CA%5CMariupol.htm
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