Auch Bibliotheken sind Schauplatz des Krieges. Während Russland dort versucht, das Land auch kulturell zu unterwerfen, sind sie für die Ukraine auf vielfältige Weise Orte des Widerstands.

Bibliotheken haben maßgeblich die Entwicklung der modernen europäischen Nationen, ihres Bildungswesens, aber auch ihres gesellschaftlichen Selbstverständnisses und ihrer Identität gestützt und gefördert. Dass sie im völkerrechtswidrigen Krieg des russischen Regimes gegen die Ukraine zu Zielen der Angreifer, wie auch zu Widerstandsorten der Verteidiger werden, kann daher nicht verwundern: Mit den Bibliotheken als Gemeinschaftszentren, mit ihrer Bildungsrolle und ihrem reichen Kulturerbe steht und fällt ein Teil der ukrainischen Nationalidentität. Ein Blick auf die aktuellen Ereignisse an dieser Kriegsfront offenbart russische Okkupationspläne im kulturellen und identitätspolitischen Bereich, demonstriert aber auch Widerstandsstrategien ukrainischer Bibliothekarinnen und Bibliothekare.

Ukrainische Bibliotheken finden sich gegenwärtig in drei Kriegssituationen wieder: in den von der russischen Armee seit dem 24. Februar 2022 besetzten Gebieten; in umkämpften Orten in den östlichen und südlichen Landesteilen; in der westlichen, von unmittelbaren Kriegshandlungen weniger betroffenen Landeshälfte.

Kulturelle „Säuberung“ durch die russischen Truppen

In den besetzten Gebieten entspricht das Agieren der Besatzer gegenüber unzerstört gebliebenen ukrainischen Stadtbibliotheken noch der vor Kriegsbeginn festgelegten Okkupationsstrategie: In einer ersten Phase werden die eingenommenen staatlichen Institutionen der Militärverwaltung unterstellt. In einer zweiten sollen diese durch lokale Kollaborateure betrieben werden. Ziel ist offensichtlich die Gleichschaltung und langfristig die De-Ukrainisierung des Bibliothekssystems und seiner öffentlichen Dienste zugunsten einer nationalistischen Russifizierung im Sinne des Narrativs des Kremls.[1] Die Legitimität und Existenz der vermeintlich vom „Ukronazismus“ vereinnahmten ukrainischen Nation wird dabei abgestritten.[2] Begleitet wird dieser Prozess von der analoge wie digitale Medien umfassenden „Installation des russischen Informationsraums“.[3]

Aufgrund der instabilen militärischen Situation – die russische Armee konnte bislang zu keinem Zeitpunkt die uneingeschränkte Kontrolle über größere Landesregionen erringen –, wurde bislang lediglich in einigen Ortschaften in den Kreisen Luhansk, Donezk, Tschernihiw und Sumy mit der Gleichschaltung der Bibliotheken durch die Militärpolizei begonnen.[4] Berichtet wird, dass Militärpolizisten mit „ideologischen Funktionen“ aus den Bibliotheksbeständen Autoren und Themen ausselektieren, die auf schwarzen Listen stehen. Unerwünschte „extremistische Literatur“, darunter Schulbücher sowie Literatur zu den ukrainischen Freiheitsbestrebungen und Revolutionen, zum Holodomor sowie zum Donbas-Konflikt, werden noch vor Ort zerstört oder abtransportiert.

Geplant ist anscheinend der Ersatz durch Bücherlieferungen aus dem Kreml-Kanon.[5] Dass das sowjetische Bibliothekssystem, das die klassische russische Kultur mit identitätspolitischer Propaganda zu kombinieren wusste, hierfür als Modell dient, ist unschwer zu erkennen. Absehbar bleibt, dass dieses Vorgehen in den besetzten Gebieten noch viel stringenter und totaler umgesetzt werden soll als in Russland selbst – freilich insofern die Okkupation überhaupt von Dauer sein wird.

Eine bislang ungeklärte Frage ist, inwiefern die russische Armee nach dem Scheitern ihrer ersten Offensiven gezielt Bibliotheken in unbesetzten Gebieten angegriffen hat, so wie u. a. Rathäuser und andere zivile Verwaltungsstrukturen. Betrachtet man die Beschädigungen der Universitätsbibliothek in Charkiw[6] und anderer Bibliotheken in dieser Stadt sowie weiterer Bibliotheken in Tschernihiw,[7] so scheint es, dass größere Bibliotheken und ihr darin enthaltenes Kulturerbe keine vorrangigen Ziele für die teuren und daher sparsam eingesetzten russischen Lenkwaffen darstellen. Ihre mittelfristige Zerstörung durch die massenhaft abgefeuerten ungelenkten Bomben gehört aber durchaus zum Kalkül der Kriegführung gegen zivile Bereiche, wie etwa die nahezu völlige Vernichtung von Mariupol zeigt. Wenig Zweifel besteht indes daran, dass das Archiv des früheren sowjetischen Geheimdienstes in Tschernihiw, das viel historisches Material zur Unterdrückung der ukrainischen Nation in Sowjetzeiten enthält, sehr gezielt zerstört worden ist. Offensichtlich soll die für Russland problematische erinnerungskulturelle Aufarbeitung gestoppt werden.[8]

Orte des Schutzes und des Widerstands

Dass Bibliotheken und Bibliothekare im Kriegsfall eine wichtige, auch rettende Rolle für ihre lokalen Gemeinden und für Geflüchtete spielen können, ist eine der menschlich erbaulicheren Erkenntnisse dieses europäischen Krieges. Die Kellermagazine von Bibliotheken in umkämpften Regionen bieten aufgrund ihrer Größe zahlreichen Menschen Schutz vor Bombardierungen. Lesesäle fungieren als Notunterkünfte und Gemeinschaftsräume; medizinische und psychologische Fachliteratur unterstützt Helfer bei der Vorbereitung von Hilfsdiensten; Schul- und Lesebücher werden gesammelt und ins Ausland geschickt, um geflüchteten Kindern die Fortsetzung ihres Schulunterrichts zu ermöglichen; Bibliotheken stellen Internetverbindungen zur Verfügung, womit trotz häufiger Unterbrechungen der Mobilfunkdienste der Zugang zu staatlichen Informationen, Warnungen und Nachrichten als auch der Kontakt zu Angehörigen ermöglicht wird.[9]

In den vom russischen Angriffskrieg bislang nicht direkt von Kampfhandlungen betroffenen Regionen hat zwar das Kriegsrecht die Einstellung des Besucherverkehrs verordnet,[10] doch läuft der Betrieb weiter. Laut Aussagen von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern werden etliche Bibliotheksdienste nach wie vor über Videoschaltungen angeboten. Wertvollere Bibliotheksbestände wurden für eine eventuelle Evakuierung verpackt. Auch wenn hierüber keine Informationen publik geworden sind – öffentliche Aufmerksamkeit könnte einen russischen Angriff provozieren –, so ist anzunehmen, dass u. a. die Nationalbibliothek in Kiew ihre wertvollen Bestände[11] mittlerweile an einen sicheren Ort abtransportiert hat. Vor allem polnische Bibliothekare, Archivare und Museumsmitarbeiter engagieren sich bei der Sicherung des unikalen materiellen Kulturerbes.[12]

Eine gesellschaftlich besonders wichtige, für die Ukraine spezifische Rolle nehmen die Bibliothekarinnen und Bibliothekare wahr. Seit dem Beginn des Krieges im Donbas vor acht Jahren haben sich Staat und Gesellschaft der Ukraine zunehmend von ihrem sowjetischen Erbe gelöst und den Verwestlichungs- und Demokratisierungsprozess ihres Landes beschleunigt. Dezentralisierender Liberalismus und eine hohe Modernisierungs- und Innovationsbereitschaft sowie ein grundsätzliches Vertrauen in die individuelle Leistungsfähigkeit stehen hinter den militärischen Reformen, dank denen das Land sich so beeindruckend gegen die russische Militärmaschinerie behaupten kann. Auf Gebieten wie der Cyber- und elektronischen Kriegsführung nimmt die Ukraine sogar eine weltweite Spitzenstellung ein.[13]

Ein Teil dieser innovativen Transformation ist auch die Rekrutierung von Bibliothekspersonal im Informationskrieg: Seit Jahren werden Bibliothekarinnen und Bibliothekare als Bildungsträger dazu angehalten, unabhängig und nach eigenem Ermessen im Netz gegen russische Desinformationskampagnen vorzugehen. Zum ukrainischen Bibliotheksdienst gehört daher nicht nur die Ausgabe von Büchern, sondern auch der professionelle Faktencheck in sozialen Medien. Die Regierung als auch der nationale Bibliotheksverband haben zu Kriegsbeginn die Weisung ausgegeben, dass Bibliotheksmitarbeiter als Unterstützung anderer Informationsexperten wie Journalisten die nunmehr virulente Fake News-Welle vehement bekämpfen sollen, die die Meinungsbildung der russisch- wie ukrainischsprachigen Bevölkerung im In- und Ausland zu manipulieren versucht.[14] Die jahrelange Anhäufung von Kompetenzen hat sich angesichts des völligen Scheiterns des Kreml-Narrativs in der Ukraine offensichtlich bezahlt gemacht. Die Expertise kann mittlerweile sogar multipliziert werden: Anders als in Deutschland und anderen westlichen Ländern bieten Bibliotheken in der Ukraine für interessierte Bürger sogar öffentliche Kurse zur Informationskompetenz an, um leichter faktische von propagandistischen Meldungen unterscheiden zu können.

Es sind Kompetenzen wie diese, die den ideellen Zusammenhalt einer demokratischen, pluralistischen Gesellschaft in einer existentiellen Krisensituation sichern und die Akzeptanz für diktatoriale Herrschaftsstrukturen untergraben. Das flexible, pragmatische Weiterdenken eines so klassischen Berufs wie des Bibliothekars markiert dabei einen der Erfahrungswerte eines nunmehr achtjährigen Krieges einer Demokratie gegen ein neo-imperiales Regime, das an einem erstarrten Kulturkampfverständnis vergangener Jahrhunderte festhält. Der ukrainische Erfolg gegen den russischen Angriffskrieg sollte daher nicht allein aus militärischer Perspektive betrachtet werden. Hier wird auch für andere freiheitliche Gesellschaften ein Lehrstück im „infowar“ von Demokratie gegen Autoritarismus aufgeführt, das man aufmerksam beobachten sollte.


[1] https://chytomo.com/v-ukraini-zaprovadzhuiut-kryminalnu-vidpovidalnist-za-informatsijnu-spivpratsiu-z-vorohom/

[2] https://ria.ru/20220403/ukraina-1781469605.html

[3] https://ria.ru/20220403/ukraina-1781469605.html

[4] https://chytomo.com/en/russians-confiscating-and-destroying-ukrainian-literature-and-history-textbooks/; https://www.euractiv.com/section/europe-s-east/opinion/russia-burns-our-books-hoping-to-destroy-our-nation/

[5] https://chytomo.com/v-ukraini-zaklykaiut-knyharni-ta-biblioteky-ne-rozpovsiudzhuvaty-knyzhky-z-rosii/

[6] https://twitter.com/martyn_wade/status/1499783740503044099

[7] https://news.yahoo.com/library-chernihiv-reduced-rubble-overnight-163206859.html; https://chytomo.com/en/russians-have-damaged-at-least-9-ukrainian-libraries/

[8] https://chytomo.com/en/russians-destroy-chernihiv-sbu-archive-with-documents-about-soviet-repression/

[9] https://www.npr.org/2022/03/09/1085220209/ukraine-libraries-bomb-shelters

[10] https://biblio.hypotheses.org/3050

[11] https://biblio.hypotheses.org/3050

[12] https://www.thefirstnews.com/article/race-on-to-save-ukraines-cultural-heritage-from-destruction-as-poland-reveals-special-task-force-delivering-essential-aid-29034

[13] https://www.n-tv.de/politik/Warum-die-Ukraine-um-ihr-Internet-kaempft-article23239212.html

[14] https://ula.org.ua/component/content/article/2-uncategorised/4980-zvernennia-ukrainskoi-bibliotechnoi-asotsiatsii-do-prezydenta-pravlinnia-ta-chleniv-ifla-vid-28-liutoho-2022-r?Itemid=1430; https://www.npr.org/2022/03/09/1085220209/ukraine-libraries-bomb-shelters


Artemka, Библиотека имени Вернадского, beschnitten, CC BY-SA 4.0