Seit 1878 schwankt Bulgarien zwischen Ost und West. Russlands Invasion in der Ukraine könnte dieses Hin und Her beenden.

Noch im November 2021 konnte der bulgarische Staatspräsident Rumen Radev die Krim als russisch bezeichnen, ohne dass ihn das seine Wiederwahl gekostet hätte. Selbst angesichts des Truppenaufmarschs Russlands an der Grenze zur Ukraine sprach sich die Regierung Anfang Februar noch gegen die Stationierung einer Einheit der NATO-Eingriffstruppe im Land aus. Wieder einmal gerierte sich Bulgarien als treuer Sympathisant Russlands, wobei die Regierung hier einmal tatsächlich die Meinung der Mehrheit der Bevölkerung wiedergab: Im Juni 2021 äußerten 55 % der Befragten einer repräsentativen Umfrage eine positive Meinung zu Putin und nur 20 % eine negative. Bulgarien gehörte zu den wenigen Ländern, wo Russlands „soft power“ nicht nur Rechtsextreme und verwirrte Exponenten ganz linkes im politischen Spektrum erreichte, sondern den gesellschaftlichen und politischen Mainstream, trotz der NATO- und EU-Mitgliedschaft des Landes. Historische Gründe gab es dafür viele; v. a. die Rolle der Russen als „Befreier“ von der osmanischen Herrschaft 1878 ist tief im kollektiven Gedächtnis wie auch im offiziellen Geschichtsbild des Landes verhaftet. Und bis vor einer Generation sprachen die meisten Bulgaren sehr gut Russisch. Die russischen Klassiker wurden in Bulgarien nicht minder intensiv wie in Russland gelesen, wenn nicht mehr.

Der Angriffskrieg Russlands hat dies verändert; noch ist es eine Momentaufnahme, aber auch die ist wichtig, angesichts des von Putin in seiner berüchtigten Fernsehansprache vom 21. Februar formulierten Aufrufs an die slawisch-orthodoxe Welt. Denn es ist nicht unwahrscheinlich, dass Russland parallel oder nach dem Krieg in der Ukraine Versuche unternehmen wird, die EU und NATO zu unterminieren und dafür auf Verbündete innerhalb des Westens bauen möchte. Eine frische Umfrage des renommierten Umfrageinstituts Alpha Research in Sofia vom 28. Februar ergab, dass heute 48 % der Befragten Putin ablehnen und ihn (nach wie vor!) 32 % positiv sehen. Eine Mehrheit hat dagegen eine positive Meinung zum ukrainischen Wolodymyr Präsidenten Zelenskyy. 63 % finden die harten Sanktionen der EU gegen Russland richtig, 32 % sind der gegenteiligen Meinung; mehr Menschen sind bereit, für eine gewisse Zeit höherer Preise für Gas usw. zu bezahlen, als es nicht sind.

Auch für Politiker wird zu große Sympathie für Russland zum Karrierehindernis: Am 28. Februar wählte das Parlament Verteidigungsminister Stefan Janev ab, nachdem sich dieser geweigert hatte, den Krieg in der Ukraine als „Krieg“ zu bezeichnen – und damit der Terminologie des Kremls folgte, der seinen Einmarsch „militärische Sonderoperation“ nennt und den russischen Medien die Verwendung der Bezeichnung Krieg untersagt. Die Klärungsversuche Janevs auf Facebook hatten die Sache nur noch schlimmer gemacht: Bulgarien brauche keine pro-russische, pro-amerikanische oder pro-europäische Position, sondern solle immer seine eigenen nationalen Interessen an die erste Stelle setzen. Die aktuelle Koalitionsregierung inkludiert zwar Parteien, die bis in die jüngste Vergangenheit viel Verständnis für Putin gezeigt haben, v. a. die Bulgarische Sozialistische Partei, auch unter ihrer gegenwärtigen Vorsitzenden. Aber ihre Zahl wird kleiner und ihre Stimme leiser, zumal ein wichtiger Faktor für die Russlandfreundlichkeit der letzten Jahre wegfallen wird: Russische Unternehmer spielten in Bulgarien eine prominente Rolle, sie fühlten sich sichtlich wohl in dem unter massiver Korruption und schwachen Gerichten leidenden EU-Mitgliedsland. Aber heute sollte man selbst als korrupter Politiker von ihnen die Finger lassen, es gibt mit Russland nichts mehr zu verdienen.

Angesichts der Wahrscheinlichkeit, dass Russlands Invasion schreckliche Opferzahlen zur Folge haben wird, zumal schon jetzt von der Armee Kriegsverbrechen begangen werden, könnte der Krieg das bulgarische Hin und Her zwischen Ost und West, eine Konstante seiner Geschichte seit 1878, ein für alle Mal beenden, zugunsten einer festen Westorientierung.


Beitragsbild: Vassia Atanassova – Spiritia, Sofia-Monument-to-Soviet-Army–Glory-to-Ukraine-20140224-1, CC BY-SA 3.0