Sei es Tausch von Literatur, seien es gemeinsame Projekte: Zahlreiche Fachbibliotheken wie die des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung arbeiten mit Einrichtungen in Russland und Belarus zusammen. Können diese Kooperationen nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine aufrechterhalten werden? Diese Frage stellt Bibliotheken vor ganz eigene Herausforderungen.

Die vom deutschen Bundeskanzler Scholz konstatierte „Zeitenwende“, die der verbrecherische Überfall Russlands auf die Ukraine bedeutet, berührt alle Teile der Gesellschaft. Während die politischen Akteur*innen in Europa diskutieren, welche Konsequenzen ein Importstopp russischer Energierohstoffe nach sich ziehen würde, stellen sich auch Vertreter*innen der Wissenschaft, insbesondere der Osteuropaforschung, die Frage nach den Folgen von Sanktionen gegen bisherige Partner. Erst kürzlich hat das Gremium „Ombudsman für die Wissenschaft“ Stellung dazu bezogen, wie Publikationsvorhaben in Kooperation mit russischen Kolleg*innen mit guter wissenschaftlicher Praxis vereinbar sind.[1]

Als Konsequenz aus dem Angriffskrieg gegen die Ukraine haben die Staatsbibliotheken in Berlin und München in einer gemeinsamen Erklärung mit dem Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung (IOS) ihre Zusammenarbeit mit der Boris-Jelzin-Präsidentenbibliothek, die direkt dem Präsidenten der Russländischen Föderation unterstellt ist und als digitale Nationalbibliothek Russlands fungiert, bis auf Weiteres ausgesetzt.[2] Andere Einrichtungen wie das Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) verurteilen den Krieg, sprechen sich aber für die Aufrechterhaltung der Kooperation mit ausgewählten Partnern aus, die „sich der menschenverachtenden und völkerrechtswidrigen Politik“ entgegenstellen.[3] Zudem gibt es eine Welle von Solidaritätsbekundungen. Zahlreiche Einrichtungen und Verbände, darunter das IOS,[4] die Arbeitsgemeinschaft der Bibliotheken und Dokumentationseinrichtungen der Ost-, Ostmittel- und Südosteuropaforschung (ABDOS)[5] oder der Deutsche Bibliotheksverband (dbv)[6] haben sich in Erklärungen solidarisch mit der Ukraine und dem ukrainischen Volk erklärt. In der Bibliothekswelt wurden sogleich Initiativen wie Saving Ukraine Cultural Heritage Online (SUCHO) lanciert, um das ukrainische (digitale) Kulturerbe zu bewahren.[7] Auf Portalen und Blogs werden Arbeits- und Fördermöglichkeiten für ukrainische Bibliothekar*innen angeboten,[8] sonstige Unterstützungsangebote für geflüchtete Bibliothekar*innen aus der Ukraine in zahlreichen Ländern aufgelistet[9]  oder aktuelle Linksammlungen zu den Reaktionen aus Bibliotheken regelmäßig publiziert.[10]

Neben diesen Solidaritätsadressen und pragmatischen Hilfsangeboten mehren sich inzwischen auch nachdenkliche Stimmen, die fragen, wie die praktische (Zusammen-)Arbeit in Zukunft aussehen soll. Der ehemalige Direktor der Herzogin Anna Amalia Bibliothek, Michael Knoche, wirft in seinem Blogbeitrag „Die Arbeit der Bibliotheken wird in Tagen wie diesen besonders wichtig – der russische Bibliotheksverband zum Krieg gegen die Ukraine“ die Frage nach künftigen Beziehungen zu russischen Bibliothekar*innen auf.[11] Ausgangspunkt ist eine bereits am 2. März veröffentlichten Stellungnahme des Russischen Bibliotheksverbandes.[12] Darin beschwört der Verband die internationale Kooperation zwischen Bibliotheken. Knoche bemerkt, dass der Verband gemäß der in Russland herrschenden Zensur zwar die Erwähnung des Kriegs vermeide, aber in seiner berufsethischen Begründung der notwendigen Zusammenarbeit auch auf die offizielle Sprachregelung des Kremls verzichte. Vielmehr betont der Verband die Wichtigkeit von Bibliotheken „in Tagen wie diesen“, die „die vertraute Welt völlig verändert“ hätten und in denen es sehr schwer sei, sich „auf die Alltagsarbeit zu konzentrieren“; es gelte generell, „unsere Sammlungen, unser kulturelles Erbe, den Zugang zu Informationen“ zu bewahren und sich „kollegial“ zu unterstützen. „Wir erinnern uns daran, dass das Menschenleben den höchsten Wert darstellt und dass wir alle so schnell wie möglich Frieden brauchen“ – so die Stellungnahme des Bibliotheksverbands.

Unter Osteuropa-Bibliothekar*innen ist zudem eine Diskussion entbrannt, inwieweit man auf die Erwerbung von Literatur aus Staatsverlagen verzichten solle. Dabei ist es Konsens, dass man keine Bestandslücken entstehen lassen darf. Die Zeiten des Kalten Krieges machen deutlich, wie wichtig eine geschlossene Überlieferung für die wissenschaftliche Nachwelt ist. Dennoch muss man überlegen, ob man mit den Erwerbungsmitteln westlicher Bibliotheken vom Staat gesteuerte und finanzierte Einrichtungen in Russland unterstützen darf. Auch in Digitalisierungsprojekten, deren Ziel die Erhaltung des kulturellen Erbes ist, stellt sich die Frage nach Formen der künftigen Zusammenarbeit. Gerade bei weniger beachtetem Kulturerbe wie dem von Minderheiten besteht eine höhere Gefährdung als bei Überlieferungen von Titularnationen. Durch deutsche Institutionen geförderte Projekte sind aber nicht realisierbar, wenn dadurch Geld an bestandshaltende Einrichtungen in sanktionierte Ländern fließt. Das verhindert momentan die Durchführung derartiger Vorhaben in Russland und Belarus, aufgrund des Krieges aber auch solche in der Ukraine. Somit sind in einer europäischen Großregion nicht nur Menschenleben, sondern auch Kulturgüter stark gefährdet.

Schließlich wirft ein weiterer Aspekt bibliothekarischer Arbeit Fragen bezüglich der künftigen Kooperation mit russischen Partnern auf. Seit den Tagen des Eisernen Vorhangs unterhält das IOS in der Nachfolge seiner Vorgängereinrichtungen umfangsreiche Tauschbeziehungen zu Bibliotheken im östlichen Europa. Darunter befinden sich auch Einrichtungen in Russland und Belarus. Sollen diese Bibliotheken weiterhin in den Genuss kostenlos zugesendeter Publikationen kommen? Ist es gerade in Zeiten eines neu entstehenden Systemgegensatzes nicht wichtig, westliche Literatur nach Russland zu senden? Gerade wenn, wie jetzt bekannt wurde, Russland seinen Wissenschaftler*innen den Besuch von internationalen Tagungen verbietet,[13] erscheint die Versorgung mit nonkonformer Literatur umso notwendiger.


[1] https://ombudsman-fuer-die-wissenschaft.de/8462/publikationsvorhaben-mit-russischen-wissenschaftlerinnen-als-problem-der-gwp/

[2] https://blog.sbb.berlin/russische-praesidentenbibliothek/

[3] https://www.zois-berlin.de/ueber-uns/aktuelles/aufruf-zu-wissenschaftskooperation-mit-kolleginnen

[4] https://www.ios-regensburg.de/aktuelles-details/2022/02/statement-zum-angriff-auf-die-ukraine.html

[5] https://abdos.martin-opitz-bibliothek.de/2022/03/11/der-vorstand-der-abdos-zum-krieg-in-der-ukraine/

[6] https://dbv-cs.e-fork.net/sites/default/files/2022-03/2022_03_07_Stellungnahme%20des%20dbv%20Ukraine%20Kooperation%20russische%20Einrichtungen_final_0.pdf

[7] https://www.sucho.org/

[8] https://jobs.openbiblio.eu/standwithukraine

[9] https://www.osmikon.de/news/nachricht-einzelansicht?tx_news_pi1%5Baction%5D=detail&tx_news_pi1%5Bcontroller%5D=News&tx_news_pi1%5Bnews%5D=116&cHash=59689be619025dfb179166eece309d70

[10] https://bibliothekarisch.de/blog/2022/03/01/bibliotheken-stehen-hinter-der-ukraine/

[11] https://biblio.hypotheses.org/3143

[12] http://www.rba.ru/news/news_4792.html

[13] https://www.timeshighereducation.com/news/russia-bars-academics-international-conferences


Beitragsbild: IOS/neverflash.com