Das historische Zentrum von Odesa steht für eine einmalige klassizistische Siedlung, geprägt von kulturellen Traditionen verschiedener Völker – und akut gefährdet durch russische Angriffe. Der Beitrag erläutert die Besonderheiten des Ensembles und erzählt die Geschichten wichtiger Bauwerke des bedrohten UNESCO-Welterbes.

In der Nacht zum 20. Juli 2023 hat Russland den Hafen von Odesa angegriffen und dabei u. a. auch die historischen Gebäude des Archäologischen Museums und des Literaturmuseums im historischen Zentrum der Stadt beschädigt. Die Explosionswelle zerstörte die meisten Fenster der Innenräume und Exponate im Literaturmuseum, und führte auch zum Einsturz der Decken in zwei Sälen.1 Wenige Tage später, am 23. Juli, wurde das historische Zentrum von Odesa erneut Opfer eines massiven russischen Angriffs. Dabei wurde die größte orthodoxe Kirche der Stadt, die Verklärungskathedrale (Spasso-Preobraschenskyj kafedralnyj sobor), zum Teil zerstört. Ihre Geschichte führt in die Anfänge der Geschichte der Stadt. Die Kirche wurde 1794 gegründet und 1808 geweiht, im 19. und frühen 20. Jahrhundert mehrmals umgebaut, schließlich im Jahr 1936 zerstört, im Kontext von Stalins antireligiösem Kampf. Ihr Wiederaufbau war im Jahr 2005 erfolgt, liegt also noch keine zwanzig Jahre zurück. Beschädigt wurden bei dem Angriff ebenfalls die historischen Gebäude des Odesa-Hauses der Wissenschaftler (ehemals Palast des Grafen Tolstoi), des Stolyarsky-Musik-Lyzeums, des Kunstmuseums, das Chyzhevych-Haus und das Solomos-Haus.

Mit Stand vom 26. Juli 2023 bestätigte die UNESCO die Schäden an acht Weltkulturerbestätten in Odesa. Am 29. Juli traf eine UNESCO-Mission in Odesa ein und untersuchte die Folgen des russischen Angriffs.  Das Ukrainian Heritage Monitoring Lab hat die Zerstörung von insgesamt 55 Gebäuden in Odesa dokumentiert.2 Generell hat die UNESCO Schäden an 274 Stätten seit dem 24. Februar 2022 nachgewiesen – 117 religiöse Stätten, 27 Museen, 98 Gebäude von historischem und/oder künstlerischem Interesse, 19 Denkmäler, 12 Bibliotheken, 1 Archiv.3

Der folgende Beitrag möchte Kontextwissen zu den Kriegszerstörungen anbieten, indem er die Geschichte der Anerkennung des historischen Zentrums Odesas als UNESCO-Weltkulturerbe skizziert und in einer Art kurzem historischen Stadtrundgang einige historische Gebäude und ihre Funktionen im gesellschaftlichen Leben der Stadt darstellt.4

Vorgeschichte

2023 erklärte die UNESCO die historische Altstadt von Odesa zum Weltkulturerbe. Diese Anerkennung erfolgte nicht plötzlich und ausschließlich kriegsbedingt. Sie hat eine über zwanzigjährige Vorgeschichte. 2001 und 2004 hatte die Stadt erste, noch erfolglose Anträge auf Aufnahme des historischen Zentrums Weltkulturerbe gestellt. In der Folge intensivierten sich die Bemühungen, u. a. mit internationalen wissenschaftlichen Konferenzen von Historiker*innen, Architekt*innen und Archivar*innen, und eine Expertengruppe bereitete einen neuen Antrag vor, der 2009 zur Aufnahme der Stadt in eine vorläufigeListe führte. Ein zweites wichtiges Jahr war 2015, als der Stadtrat von Odesa die Vorbereitung eines sogenannten Nominierungsdossiersfür die Aufnahme von Odesa in die UNESCO-Hauptliste initiierte. Dieses eher technische Dokument beschrieb das nominierte Objekt auf der Basis von Architektur-Untersuchungen, Tabellen mit Vergleichsanalysen, Dokumenten, Karten und Nachweisen der Einzigartigkeit und Bedeutung des Objekts für die Weltkultur.

Nach dem Beginn der umfassenden Kriegsaggression Russlands gegen die Ukraine am 24. Februar 2022 nahm die UNESCO dann auf einer außerordentlichen Sitzung das historische Zentrum von Odesa in einem beschleunigten Verfahren in die Kategorie der von Zerstörung bedrohten Objekte auf. Die Stadtverwaltung von Odesa hatte sich zuvor an die UNESCO gewandt, ein solches Verfahren in Betracht zu ziehen.5 Ein Dossier wurde im Oktober 2022 bei der UNESCO eingereicht, die dann am 25. Januar 2023 auf einer außerordentlichen Sitzung des UNESCO-Komitees beschloss, das historische Zentrum in ihre Weltkulturerbeliste aufzunehmen.

Zwei Kriterien waren für das UNESCO-Komitee zentral: die Widerspiegelung von Multikulturalität in Odesas Bauten und die Einzigartigkeit seiner historischen Bebauung (Bebauungsplan). In dem Beschluss heißt es:

„Kriterium (ii): Das historische Zentrum von Odessa stellt einen wichtigen Austausch menschlicher Werte innerhalb Osteuropas durch seine heterogenen Architekturstile dar, die während seines schnellen Wachstums im 19. Jahrhundert entwickelt wurden und das Zusammenleben vieler Kulturen und die Kombination von Einflüssen charakteristisch für das Grenzgebiet von Europa und Asien widerspiegeln.

Kriterium (iv): Das historische Zentrum von Odessa ist eine herausragende ,Zeitkapsel‘ der Stadtplanung des 19. Jahrhunderts mit heterogenen Gebäuden, die größtenteils aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und dem frühen 20. Jahrhundert stammen, was das außergewöhnlich schnelle Wachstum der Stadt widerspiegelt, basierend auf dem durch die industrielle Revolution geschaffenen Wohlstand und ihrer bemerkenswerten Vielfalt“.6

Ein kurzer historischer Stadtrundgang: Ausgewählte Orte

Ein kurzer historischer Rundgang durch die Altstadt Odesas kann genauer zeigen, wie sich diese beiden Kriterien im Stadtbild niederschlagen. Die Anlage der Stadt aus einem Guss, und besonders des Zusammenhangs von Hafen und Stadt, geht auf den holländischen, aus Antwerpen stammenden Ingenieur François Paul de Wollant (De-Volant, 1752–1818) zurück. Er war als junger Mann in den Kriegsdienst eingetreten, einige Zeit in Nordamerika gewesen und 1787 in den Dienst des Zaren getreten. Das zeigt seine beeindruckende Mobilität, war aber in der Zeit auch nicht ganz außergewöhnlich. Schon ein Jahr später wird er an die südliche Grenze Russlands beordert und diente dort an verschiedenen Orten unter Fürst Grigorij Potemkin. Während und nach den für Russland militärisch erfolgreichen Kriegen gegen das Osmanische Reich finden wir ihn dort aufgrund seiner Ausbildung als Festungsingenieur als Kartographen der neuen Grenzlinie am Dnistr sowie neu geplanter Festungsstädte (Tiraspol) und Hafenstädte (Mykolajiw, Odesa).

Der Hafen

Sein Stadtplan von Odesa aus dem Jahr 1794 zeigt die Anlage der Stadt, die bis heute für das Stadtbild prägend geblieben ist, vor allem das Verhältnis von Hafenanlage und Stadt und die beiden Schachbrettmuster der Stadt. Es ist nicht bekannt, dass eine westeuropäische oder nordamerikanische Stadt modellbildend war. Der Hafen ist von Beginn an sowohl als Kriegshafen als auch als Handelshafen konzipiert und wurde in den Jahren nach 1794 zügig ausgebaut. Der nach Osten ausgerichtete Tiefwasserhafen, über dem sich hoch auf den Kalksteinklippen die Stadt ausstreckte, war anders als die anderen seichten Häfen am Azovschen und Schwarzen Meer bis auf wenige Wochen im Januar–Februar eisfrei. Der Hafen war das Schicksal der Stadt, brachte besonders mit dem Freihafenstatus von 1819–1859 Waren und Menschen aus dem Hinterland und aus dem Mittelmeerraum hierher – und führte in wachsendem Umfang Weizen aus. Der Staat, dem der Hafen unterstand, förderte den Hafenausbau bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts nach Kräften: Neben einem Quarantänehafen, an dem die ausländischen Schiffe andockten und häufig eine zeitraubende Zeit verbringen mussten, gab es einen sogenannten Praktischen Hafen für die Küstenschifffahrt, und es entstanden weitere Hafenbecken. Die Situation änderte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als der Staat begann, auch andere Schwarzmeerhäfen zu fördern bzw. mehr zu fördern als Odesa. Die Eisenbahnverbindungen aus dem Hinterland nach Odesa blieben unzureichend für den Handel über den Hafen, es fehlten Investitionen in die Pflege der Hafenanlagen, zum Beispiel in das Ausbaggern der Fahrrinnen, in Lagerkapazitäten und Docks, in Eisenbahngleise bis in den Hafen und moderne Elevatoren. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts wurde ein Großteil des Getreides noch auf Karren in den Hafen gebracht, die Ladeeinrichtungen begannen zu verrotten, es fehlte an Schiffsreparaturkapazitäten, an Eisbrechern etc. Es wurde zwar noch ein separater Petroleumhafen eröffnet, bis zum Ende des Zarenreiches aber kein dringend benötigter separater Getreidehafen mit modernen Elevatoren eingerichtet.

Prymorskyi-Boulevard und „Potemkinsche Treppe“

Auf der Terrasse oberhalb des Hafens befindet sich der Prymorskyi-Boulevard, den man seit den 1840er Jahren über eine große Treppe (die „Potemkinsche Treppe“) erreichte. Eine Treppe gab es hier schon, bevor die vormalige osmanische Festung Chadjibey in Odesa umbenannt wurde. Sie verband bereits 1764 die Spitze des von der türkischen Festung gekrönten Hügels mit der Schwarzmeerküste und war aus dem Muschelgestein des Hügels gemeißelt, wurde nach der Gründung der Hafenstadt durch Holztreppen ersetzt, hatte zweihundertzwanzig Stufen und führte zu den Bädern an der Küste. Die neue Treppe entstand 1837 bis 1841 nach Plänen des italienischen Architekten Francesco Boffo in Zusammenarbeit mit den Architekten Avraham Melnikov und Karl Potie sowie den Ingenieuren John Apton und Grigorij Morozov. Die 142 Meter lange Treppe überwand die etwa 30 Meter Höhendifferenz zwischen dem Hafen und der auf einem Plateau gelegenen Stadt und bestand ursprünglich aus 200 Stufen, unterbrochen von je einem großen Treppenabsatz zwischen jeweils 20 Stufen. Heute besteht die Treppe aus 192 Stufen, da beim Ausbau des Hafens acht Stufen zugeschüttet wurden. In den 1930er Jahren wurde die Treppe von Grund auf restauriert und der korrodierte Sandstein durch Marmor vom Südlichen Bug ersetzt.

Im 19. und frühen 20. Jahrhundert hatte die Treppe keinen festen eigenen Namen, sondern trug unterschiedliche Namen. Alte Postkarten und Dokumente nennen sie zum Beispiel Mykolaivskyi-Boulevard-Treppe, Richelieu-Treppe, Boulevard-Treppe, Hafentreppe, Große Treppe, Steintreppe, in der Sowjetzeit dann auch Feldman-Boulevard-Treppe (von 1919 bis 1941) und Potemkinsche Treppe. Der Filmemacher Sergej Eisenstein hat ihr im Film „Panzerkreuzer Potemkin“ von 1925 das bekannteste Denkmal gesetzt. Die Potemkinsche Treppe führt vom Hafen zum Platz in der Mitte des Prymorskyi-Boulevards, wo sich das Denkmal des Armand Emmanuel du Plessis, Duc de Richelieu befindet.

Duc de Richelieu (1766–1822) stammte aus einer berühmten französischen Adelsfamilie und stand nach der französischen Revolution lange Zeit im Dienst des Zaren. Er war ab 1803 Stadthauptmann Odesas und von 1805–1814 erster Generalgouverneur der Region und setzte sich beim Zaren tatkräftig für die Entwicklung der Stadt ein, so auch für ihren Freihafenstatus. Die Odesaer Bevölkerung nannte ihn auch „unseren Duc“ und sah ihn wegen seines Engagements für die Stadt als den eigentlichen Gründer der Stadt an. Als die Bourbonen in Frankreich den Thron zurückeroberten, kehrte Richelieu nach Frankreich zurück und wurde Premierminister in der Regierung von Ludwig XVIII. Als Richelieu 1822 starb, spendete die Odesaer Bevölkerung für den Bau eines Denkmals, mit dessen Errichtung der berühmte Bildhauer Ivan Martos beauftragt und das im Jahr 1828 enthüllt wurde. Das erste Denkmal in Odesa zeigt eine Bronzestatue von Richelieu in einer römischen Toga mit einer Schriftrolle in der Hand. Der Sockel ist verziert, drei Hochreliefs aus Messing symbolisieren Landwirtschaft, Handel und Gerechtigkeit. Der Platz, das Denkmal von Duc de Richelieu und die „Potemkinsche Treppe“ waren und sind wichtige gesellschaftliche Orte in der Stadt. Seit 2008 wird am Vyshyvanka-Tag (dem Tag der ukrainischen Nationalkleidung) ein spezielles besticktes Hemd für den Duc genäht und ihm übergehängt. Am Tag der ukrainischen Flagge, dem 23. August, wird die Fahne der Ukraine auf den Stufen der Treppe entrollt, wobei deren Länge mit den Jahren der Unabhängigkeit der Ukraine zunimmt. 2014 versammelten sich hier die Anhänger des Euromaidan.

Am westlichen Ende des Prymorskyi Boulevards entstand zwischen 1829–1837 das Gebäude der Kaufmannsbörse, das ebenfalls auf ein Projekt von Franzesco Boffo (und Giovanni Toricelli) zurückgeht. Ihre Merkur- und Ceresstatuen symbolisieren die Bedeutung des Handels für Odesa, genauso wie die Skulpturenkomposition „Tag und Nacht“ in der Mitte oben mit einer großen Uhr zwischen zwei Frauendarstellungen. In dem Gebäude tagte auch die Stadtduma mit ihren mehrheitlich wohlhabenden internationalen Kaufleuten als Deputierten, die nach 1862/1870 größere Entscheidungsbefugnisse erhielt und in der sich etwa der vormalige Generalgouverneur Aleksandr Stroganov als erster Bürger der Stadt engagierte und von 1878–1895 der griechische Negoziant Grigorij Marazli Bürgermeister war. Nach 1905 wurde die Stadtduma zu einer Zitadelle der russischen Nationalisten, die hier zarische Herrschaft als russisch-nationale Herrschaft durchsetzen wollten, aber auf starke gesellschaftliche Gegenkräfte stießen.

Das Opernhaus

Die Oper, hinter Stadtduma und Englischem Klub gelegen, gehört bis heute zu den Schmuckstücken der Stadt und ist Beweis ihrer europäischen Orientierung. Das alte Theater aus dem Jahr 1810 war 1873 abgebrannt. Die Stadt beauftragte nach einigen Jahren die beiden Wiener Architekten Ferdinand Fellner und Hermann Helmer mit einem Neubau, der zwischen 1883/84–1887 im italienischen Barock nach dem Vorbild der Dresdner Semperoper realisiert wurde. Mit 1,3 Millionen Rubel war der Neubau eine gigantische finanzielle Anstrengung der Stadt, bestand aus Bühne, Vestibül und Zuschauerräumen auf fünf Ebenen, Fassaden im neobarocken Stil, einem Zuschauerraum im Stil des Rokoko, mit Büsten von Michail Glinka, Nikolaj Gogol, Aleksandr Griboedov und Alexander Puschkin in Nischen. Es stechen dekorative Elemente wie die Skulpturengruppen im Eingangsportal hervor, die auf die Tragödie und Komödie als Theaterformen verweisen, aber auch ionische Säulen in der ersten Etage sowie altgriechische Musenfiguren, im Innenraum goldverzierter Barockstuck, Lüster, Böden mit Darstellungen aus Marmor etc. Die Akustik der Oper gilt als einzigartig, und auch an der Beleuchtung wurde nicht gespart, sondern eine elektrische Beleuchtung der Edison Company eingebaut.

Die besondere Qualität der Oper/Theater für Odesa bestand nicht nur darin, dass ihr Bau eine bedeutende Leistung der Odesaer Gesellschaft war, sondern dass hier Menschen aus verschiedenen sozialen und kulturellen Milieus zusammenkamen, die an anderen Orten so nicht aufeinander trafen, weder an der Börse noch in der Universität, im Stadtrat, auf dem Prymorskyi Boulevard oder im Hafen. Sie war ein Ort der Vergemeinschaftung, wenn auch vor allem des handeltreibenden und gebildeten Odesa, mit dem sich die Stadt darüber hinaus in die europäische Musikwelt der Zeit integrierte und an dem das populäre Repertoire mit einer starken Orientierung auf der italienischen Oper dominierte.

Literaturmuseum und Archäologisches Museum

Nicht weit von der Oper und der Duma entfernt befinden sich das Literaturmuseum und das Archäologische Museum. Das Literaturmuseum im ehemaligen Gagarin-Palast war ursprünglich der Ort der 1897 gegründeten literarisch-künstlerische Gesellschaft gewesen, in der sich mehrheitlich liberal gesinnte Künstler*innen, Schriftsteller*innen, Publizist*innen und anderen Intellektuelle vor der Revolution von 1905 zum Austausch trafen und auch radikalere Ideen geäußert wurden.7 In den Jahren 1909–1911 fanden hier Kunstausstellungen mit berühmten Avantgardekünstler*innen statt. Das Literaturmuseum präsentiert heute mehr als 300 Namen von Schriftsteller*innen, die auf die eine oder andere Weise mit Odesa verbunden sind.8

Die Sammlung des Аrchäologischen Museums begründete 1825 der Geograph und Generalleutnant Ivan Pavlovych Blaramberg. Die 1839 in Odesa entstandene Kaiserliche Odessaer Gesellschaft für Geschichte und Altertumskunde hat ebenfalls einen großen Beitrag zum Aufbau der Sammlung geleistet. Sie erhielt vom Staat das Recht, Ausgrabungen in der nördlichen Schwarzmeerregion durchzuführen. Das Gebäude wurde 1883 von dem Architekten Feliks Gąsiorowsk im Stil des Klassizismus errichtet und hat auch als öffentliche Bibliothek und Museum gedient. In seiner Blütezeit unter Leitung des Universitätsprofessoren Ernst Romanowitsch von Stern am Ende des 19. Jahrhunderts wurden Ausgrabungen zu Siedlungen der griechischen Kolonisation und der trypillischen Kultur durchgeführt, das gesamte Gebäude an das Museum übertragen und die Ausstellungen und Sammlungen nach einem streng wissenschaftlichen System geordnet.9 Heute beherbergt das Archäologische Museum eine der größten Sammlungen archäologischer Quellen zur alten Geschichte der Südukraine. Der Hauptfundus des Museums umfasst mehr als 170 000 archäologische Fundstücke, u. a. die einzige Sammlung altägyptischer Denkmäler10 in der Ukraine und die größte Sammlung antiker Raritäten im Land. Unter den 50 000 Münzen, die im Museum aufbewahrt werden, sind sehr seltene Gold- und Silbermünzen, die im antiken Griechenland, Rom, Byzanz und der Kiewer Rus hergestellt worden sind. Insbesondere der „Zlatnik“ des Fürsten Wolodymyr, eines von zwei Exemplaren in der Ukraine und von zehn weltweit bekannten Münzen, ist hier ausgestellt.11

Faltz-Fein-Haus und Handelshaus Wagner

Ein weiteres wichtiges historisches Gebäude im historischen Zentrum von Odesa ist mit einer deutschstämmigen Familie verbunden. Es handelt sich um das Faltz-Fein-Haus oder das Haus mit den Atlanten. Es ist das Wahrzeichen der Weltvereinigung der Odessiten. Im Jahr 1895 ließ der wohlhabende und einflussreiche Unternehmer Hryhorii Weinstein (1860–1929)12 für seine Familie ein Haus im holländischen Stil errichten, drei Jahre später teilte man es in zwei Teile mit derselben Adresse. Der südliche Teil verblieb bei Weinstein, den nördlichen Teil übernahm die besagte Familie Falz-Fein. Es ist ein vierstöckiges Gebäude mit einem Dachgeschoss und einem Bogen im südlichen Teil, seine Dominante ist ein rechteckiger Eckerker, auf dem das Universum in Form einer Weltkugel mit Sternen ruht, das von zwei Atlanten getragen wird. Die Familie Faltz Fein stammte aus Sachsen und stieg in der Südukraine zu Großgrundbesitzern auf, die das Naturschutzgebiet Askania Nova in der Region Cherson gründeten. Es ist in das Internationale Netzwerk der Biosphärenreservate der UNESCO aufgenommen und befindet sich momentan in den von der russischen Armee besetzten Gebieten.

Das Beispiel des Handelshauses Wagner zeigt ein anderes Mobilitätsmuster der deutschen Bevölkerung. Der Kaufmann der 1. Gilde und württembergische Untertan Wilhelm Friedrich Wagner (1803–1882) handelte seit 1833 in Odesa mit Galanteriewaren, Manufakturwaren und Maschinen, und sein Geschäft gehörte in den 1880er Jahren in der schnelllebigen Stadt bereits zu den alten und etablierten Handelshäusern.13 1852 baute er auf der Preobrazhenskaja Straße auf einem vom Fürsten Gagarin erworbenen Grundstück ein dreistöckiges Haus, in dem er für mehrere Jahre auch ein komfortabel eingerichtete „europäisches“ Hotel unterhielt (mit Eichenholz, böhmischem Glas, Marmortreppen, großen Fluren, Wasserleitungen und Toiletten mit Wasserspülung). In den 1860er Jahren pries ein Stadtführer die Qualitätsartikel des Geschäfts wie Silbergeschirr, Leinen-, Woll-, Seiden- und andere Stoffe, aber auch Lederwaren, optische Instrumente sowie Tee und Havannazigarren, die aus vielen Ländern stammten. Nach dessen Tod führten ab 1882 der Schwiegersohn Karl Rink-Wagner und ab 1895 dessen Sohn Karl Wagner das Geschäft weiter. Im Unterschied zu Mahs stammte der Firmengründer jedoch nicht aus einer alten Kaufmannsfamilie, sondern aus den Kreisen der Kolonisten, die sich seit dem frühen 19. Jahrhundert im Umkreis der Stadt niedergelassen hatten. Es war mit diesem Mobilitätsmuster nicht das einzige Handelshaus, sondern auch die Gründer weiterer deutscher Waren- und Handelshäuser waren aus dem Kolonistenstand aufgestiegen, boten zum Teil Waren für die Kolonisten an, wie Eisen-, Stahl- und Metallwaren, Landmaschinen und Kunstdünger. Wagner kaufte in den späten 1850er Jahren auch die Gebäude des alten Richelieu-Lyzeums.

Lyzeum/Universität

Lyzeen waren eine typische adlig-exklusive Einrichtung des frühen 19. Jahrhunderts. Das Richelieu-Lyzeum wurde 1817 gegründet, später so benannt nach dem Generalgouverneur und Stadthauptmann Richelieu.14 In den 1830er und 40er Jahren erweiterte es seinen Fächerkanon um naturwissenschaftliche Fächer und wurde so eine wichtige institutionelle Basis für die 1864 gegründete Universität. Der Neubau der Jahre 1852–57 im florentinischen Stil beherbergte dann auch die Universität. Nach dem Krimkrieg gab es verschiedene Pläne für eine Reform des Lyzeums: dazu gehörten die Gründung eines höheren Landwirtschaftsinstituts in einer agrarisch wichtigen Region; einer Universität mit panslawischer Perspektive, vor allem für die südslawische Jugend; eine Universität in Mykolajiw als einer kleineren Stadt, da eine Universität in einer größeren Handelsstadt wie Odesa keinen Sinn ergebe. Schließlich einigte man sich 1862 darauf, eine Universität in Odesa zu gründen, allerdings bis 1900 ohne eine medizinische Fakultät, die die teuerste Fakultät bei Universitätsgründungen war. Die Odesaer Universität (offiziell: Neurussische Universität) strahlte nicht nur auf die südslawischen Völker aus, sondern auch auf Bessarabien und den Kaukasus, da es dort bis 1917 keine Universität gab: Die kaukasischen Studenten waren Anfang des 20. Jahrhunderts die politisch radikalsten Studenten in Odesa. Die Kinder vieler wohlhabender Eltern besuchten die hauptstädtischen oder westeuropäische Universitäten, aber die Universität gewann durchaus ihr eigenes intellektuelles Profil, vor allem in den Naturwissenschaften. Sie war 1905 einer der zentralen Schauplätze der Revolution, hier unterrichtete auch Oleksandr Hrushevskyi, der Bruder des bekannten ukrainischen Staatsmanns Mykhajlo Hrushevskyi, und hielt eine Vorlesung in ukrainischer Sprache!

Kirche St. Paul

Die Multikulturalität von Odesa zeigt sich nicht zuletzt an den religiösen Gebäuden, die Angehörige verschiedener Religionen erbauen ließen. Die orthodoxe Hauptkirche, die Verklärungskathedrale, wurde wegen ihrer teilweisen Zerstörung durch Russlands Angriff bereits zu Beginn vorgestellt. Andere liegen in der Pufferzone am Rande der historischen Altstadt wie zum Beispiel die Hauptsynagoge und die Evangelisch-Lutherische Kirche St. Paul.

Seit der Ansiedlung deutscher Kolonisten zu Beginn des 19. Jahrhunderts setzten sich vor allem die evangelischen und katholischen Geistlichen in Odesa und Umgebung (Lustdorf, Großliebenthal, Peterstal, Franzfeld, Nejburg, Freudentaln u. a.) für den Kirchbau und -ausbau ein. Erst 1827 konnte aber eine evangelische Kirche in einem einfachen, großen, klassizistischen Bau eröffnet werden, um die herum sich in der Folge eine eigene Infrastruktur mit einem privaten Lehrerseminar, einer Mittelschule (seit 1858 Deutsche Realschule St. Paul), einem Waisen- und Armenhaus (1870er Jahre), 1892 schließlich, nach langem Ringen, einem evangelischen Krankenhaus bildete. 1897 konnte schließlich ein Kirchenneubau im neoromanischen Stil für etwa 1200 Personen beendet werden (bei einer Gemeindegröße von 8 000–8 500 Mitgliedern). Im Jahr 1976 wurde das Kirchengebäude durch einen Brand beschädigt und konnte erst Anfang der 2000er Jahre dank Spenden und der Unterstützung der weltweiten lutherischen Gemeinschaft wiederhergestellt werden. Im Frühjahr 2010 erhielt die Kirche vier neue Glocken, die in der Glockenwerkstatt von Rudolf Perner in Passau gegossen wurden. Die größte, 1 Tonne schwere Glocke, auch Christusglocke genannt, war ein Geschenk aus Regensburg.15

Hauptsynagoge und Brodsky-Synagoge

Unter den weiteren Beispielen der Multikonfessionalität Odesas ragt die Neue Jüdische Synagoge (Brodsky-Synagoge) heraus. Sie wurde 1863–1868 von Architekt Joseph Kolovych im Stil der florentinischen Gotik erbaut. Die Synagoge hob sich durch ihre harmonischen Proportionen, Bogenfenster, Spitzbogengewölbe und achteckigen Türme hervor. Der Name der Synagoge weist darauf hin, dass ihre Gründer aus der ostgalizischen Stadt Brody stammten. Sie brachten von dort die jüdische Aufklärung nach Odesa, und mit ihr und ihrer Schule sind wichtige jüdische Familien in der Stadt wie die Familie Pinsker verbunden. Der Arzt Leon Pinsker war einer der Begründer des Zionismus, sein Vater Lehrer an der Jüdischen Mittelschule.

Die Brodsky-Synagoge war eine einflussreiche und beliebte religiöse Einrichtung in Odesa. Sie erhob den Anspruch, gleichrangig mit der Hauptsynagoge (an der Ecke der Rishelievska- und der Yevreiska-Straße) zu sein, betonte aber auch ihre Besonderheit. Trotz zahlreicher Umbauten während der Sowjetzeit und des Verlusts der Inneneinrichtung hat das Gebäude der ehemaligen Brody-Synagoge seinen Wert bewahrt. 2016 ging die Brody-Synagoge wieder in den Besitz der jüdischen Gemeinde über. Das Gebäude wird jedoch bis heute weiterhin vom Staatsarchiv genutzt.16 Im Archiv werden Tausende von Dokumenten aufbewahrt, die von der Geschichte der Stadt, ihrer Multikulturalität, Multinationalität und Multikonfessionalität zeugen.

Das Ensemble

Das historische Zentrum von Odesa verfügt über zahlreiche gut erhaltene historische Gebäude, unter ihnen 42 sehr bedeutende. Sie wurden von bedeutenden Architekten und Ingenieuren verschiedener Nationalitäten in einer eklektischen Mischung verschiedener Baustile entworfen. Manche Fachleute sprechen sogar vom Odesa oder südlichen eklektischen Stil. Zusammen bilden diese Gebäude ein integrales historisches Ensemble. Sie zeigen eine seltene Art der historischen Entwicklung einer multinationalen klassizistischen Siedlung, in der die kulturellen Traditionen verschiedener Völker ein besonderes soziales und kulturelles Umfeld geschaffen haben.

Derzeit wird an der Erweiterung des Territoriums des historischen Zentrums gearbeitet, das unter den Schutz der UNESCO gestellt werden soll. Vielleicht werden also auch die Hauptsynagoge und die Kirche St. Paul bald in das Weltkulturerbe „Historisches Zentrum von Odesa“ aufgenommen.


Beitragsbild: Historisches Zentrum Odesas (2018). Bild: IMAGO/Pond5 Images

Bild Inhaltsübersicht/Skulptur Opernhaus: Юлія Рядченко, Sculpture of the Odessa Opera House, beschnitten, CC BY 4.0

  1. Horlač Polina Vybylo vikna ta zasypalo eksponaty: dva muzeji Odesy postraždaly vnaslidok rosijsʹkoji raketnoji ataky:  https://suspilne.media/533097-vibilo-vikna-ta-zasipalo-eksponati-dva-muzei-odesi-postrazdali-vnaslidok-rosijskoi-raketnoi-ataki/; Odesa: UNESCO strongly condemns attack on World Heritage property: https://www.Unesco.org/en/articles/odesa-Unesco-strongly-condemns-attack-world-heritage-property?fbclid=IwAR06IL4OJnpiGU4RVWzSwKVEqdD2-50AvNuzEaqQ9R4hi416eyGc48vFIKw []
  2. Kabacij Marija Komanda monitorynhu spadščyny zafiksuvala rujnuvannja 55 ob’jektiv u Odesi: https://life.pravda.com.ua/culture/2023/08/3/255719/ []
  3. Damaged cultural sites in Ukraine verified by UNESCO: https://www.Unesco.org/en/articles/damaged-cultural-sites-ukraine-verified-Unesco?hub=66116 []
  4. Die Autor*innen danken Іvan Liptuha, Fedir Stoyanov, Lidia Kovalchuk von der Abteilung für die Arbeit mit der UNESCO und dem Schutz des kulturellen Erbes der Abteilung für Kultur, internationale Zusammenarbeit und europäische Integration beim Stadtrat von Odessa, für ihre Unterstützung. []
  5. Mer Odesy zvernuvsja do svitovoji spilʹnoty i UNESCO: https://omr.gov.ua/ua/news/227989)) Gleichzeitig wurde eine Arbeitsgruppe eingesetzt, der neben Expert*innen aus Odesa auch Vertreter*innen des italienischen Kulturministeriums, Forscher*innen der Polytechnischen Universität Turin und Mitglieder des UNESCO-Nominierungsausschusses angehörten. Auch andere Länder und Städte haben bei diesem Prozess Unterstützung geleistet, zum Beispiel Odesas Partnerstadt Regensburg, deren Stadtverwaltung das Thema auf einer Sitzung am 28. April diskutierte, auf der auch der Bürgermeister von Odesa das Wort ergriff. ((Mer Odesy vystupyv na zasidanni Municypalitetu Regensburga: https://omr.gov.ua/ua/news/227671)) Anfang Juni 2022 besuchte die deutsche Kulturstaatsministerin Claudia Roth die Stadt und sagte ihr in klassischen Politikerworten Unterstützung bei der Bewerbung zu: „Die ukrainische Regierung ist nicht allein. Wir wollen zeigen, dass wir da sind“, „wir wollen zeigen, wie die Kultur angegriffen wird“. ((Kulturstaatsministerin Claudia Roth besucht Odessa: https://www.welt.de/politik/ausland/article239209995/Kulturstaatsministerin-Claudia-Roth-besucht-Odessa.html []
  6. The Historic Centre of Odesa: https://whc.Unesco.org/en/list/1703/ []
  7. Hausmann, Guido: Localism and Cosmopolitanism in Odesa. The Case of the Odesan Literary-Artistic Society 1898-1914, in: Mirja Lecke, Efram Sicher (Hrsg.): Cosmopolitan Spaces in Odesa. A Case Study of an Urban Context. Boston 2023, S. 21–36. []
  8. Odesʹkyj literaturnyj muzej https://museum-literature.odessa.ua/museum/ []
  9. Kuzʹmiščev Oleksandr E. R. fon Štern — doslidnyk antyčnoji archeolohiji Pivničnoho Pryčornomor’ja (kin. XIX — poč. XX st.)  in Archeolohija i davnja istorija Ukrajiny. Kyjiv, 2015. Vyp. 1 (14). S. 430–437; Guido Hausmann: Universität und städtische Gesellschaft in Odessa. Soziale und nationale Selbstorganisation an der Peripherie des Zarenreiches 1865–1917. Stuttgart 1998. []
  10. Brujako Іhor Kolekcija Starodavnʹoho Jehyptu u zibranni Odesʹkoho archeolohičnoho muzeju NAN Ukrajiny in Visnyk Nacionalʹnoji akademiji nauk Ukrajiny. Kyjiv 2020.  № 2.  S. 28–33. []
  11. Ochotnikov S.B. Odesʹkyj archeolohičnyj muzej v Encyklopedija istoriji Ukrajiny. T. 7 Kyjiv 2010. S. 544: http://www.history.org.ua/?termin=Odeskyj_arkheolohichnyj. []
  12. Hausmann Guido Die wohlhabenden Odessaer Kaufleute Und Unternehmer. Zur Herausbildung bürgerlicher Identitäten Im ausgehenden Zarenreich. In: Jahrbücher Für Geschichte Osteuropas 48, Nr. 1, 2000, S. 41–65. []
  13. Hierzu Guido Hausmann: Deutsche Kaufleute und Unternehmer im Wirtschaftsleben Odessas am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts. In: Dittmar Dahlmann, Carmen Scheide (Hrsg.): „…das einzige Land in Europa, das eine große Zukunft vor sich hat.“ Deutsche Unternehmen und Unternehmer im Russischen Reich im 19. Und frühen 20. Jahrhundert. Essen 1998. []
  14. Dazu: Hausmann, Universität und städtische Gesellschaft in Odessa, 1865–1917; Kovalʹ Іhor (Hrsg.) Odesʹkyj nacionalʹnyj universytet imeni І.І. Mečnykova. Іstorija ta sučasnistʹ (1865–2015). Odesa: ONU, 2015. []
  15. Nimci podaruvaly ljuteransʹkomu kafedralʹnomu soboru Odesy novi dzvony https://web.archive.org/web/20130320043739/http://risu.org.ua/ua/index/all_news/protestants/lutherans/34615/ []
  16. Andrij Іvančenko: Synahohy Ukrajiny v Svitohljad, 2019, №3 (77). S. 54: https://www.mao.kiev.ua/biblio/jscans/svitogliad/svit-2019-14-3/svitoglyad-2019-14-3-12-ivchenko.pdf; Steven J. Zipperstein: The Jews of Odessa: A Cultural History, 1794–1881. Stanford, CA: Stanford University Press, 1985. []