Die Existenz der ukrainischen Nation wird häufig in Zweifel gezogen, insbesondere in Russland. Doch aus welchen Geschichten kann die ukrainische Nationsbildung schöpfen und warum lassen sich daraus keine Argumente gegen den souveränen Staat der Ukraine ableiten?

„Welche Unzahl völlig unvereinbarer Welten […] fand im Laufe der Jahrhunderte in unserem Raum ihren historischen Ort, und mit welchem Erstaunen, welcher Empörung, welchem Gelächter nähmen die meisten Helden dieser lange untergegangenen Welten die Nachricht aus der Zukunft auf, dass sie für die Idee eines weißrussischen Nationalstaats gekämpft, gelitten und ihr Leben gelassen haben sollen […].“1

Das von Valentyn Akudovyč für den belarusischen Fall beschriebene „Erstaunen“ vormoderner „Helden“ kann ohne große Probleme verallgemeinert werden. Immer wenn Geschichte für die Belange der Gegenwart in Dienst genommen wird, sprechen wir von Metageschichten – selektive, auf ein gewisses politisches oder sonstiges Ziel hin konstruierte Narrative, die der Geschichte Sinn und Richtung geben. Denn Geschichte selbst hat keinen Sinn; diesen erlangt sie erst durch menschliche Zuschreibungen.2 Das sollten wir uns auch als Vertreter*innen des Fachs immer wieder klar machen. Äußerungen wie die von Helmut Schmidt aus dem Jahr 2014, nach denen es keine ukrainische Nation gebe, halten sich dennoch hartnäckig. Mit ihnen wird u. a. versucht, die Dimensionen des Tabu-Bruchs zu relativieren, die Russlands Angriffskrieg auf den souveränen Staat der Ukraine darstellt. In meiner Ablehnung solcher Aussagen geht es mir jedoch nicht nur um solch haarsträubende Fehlannahmen, laut denen die Westukraine beispielsweise überwiegend römisch-katholisch geprägt sei.3 Vielmehr liegt solchen Positionen ein grundlegendes Missverständnis zu Grunde: Mit der gleichen Bestimmtheit, mit der der ukrainischen Nation eine historische Existenz abgesprochen wird, kann man auch sagen, dass es keine deutsche, britische oder spanische Nation gäbe. Das reichhaltige Reservoir der Geschichte hält für jede dieser Konstruktionen stützende und widersprechende Argumente bereit. Jede Nation ist, wie Benedict Anderson es formuliert hat, eine „imagined community“, eine auf bestimmten historischen, sprachlichen oder kulturellen Ressourcen aufbauende, imaginierte Gemeinschaft.4 Die Tatsache, dass manche davon diskursiv stärker hinterfragt werden als andere, ändert nichts an ihrer grundsätzlichen Konstruiertheit.

Die Prozesse der europäischen Nationsbildung vollzogen sich in der Regel im Verlauf des 19. Jahrhunderts; im ukrainischen Fall geschah das unter enorm repressiven Bedingungen, vor allem im russländischen Reich. Verwiesen sei hierfür auf die klugen und weitsichtigen Werke von Andreas Kappeler oder ganz aktuell auf die Vorlesungs-/Podcast-Serie von Franziska Davies (siehe weiterführende Literatur). Anstatt dortige Aussagen zu wiederholen, möchte ich in den tiefen Brunnen der vormodernen Geschichte eintauchen und drei Episoden sowie ihre „Helden“ hervorheben, die zur Begründung der ukrainischen Nation herangezogen wurden und werden, oder eben auch nicht.

„Wie alles begann“ oder eine purpurgeborene Tochter für den Warägerfürst

Schon zur Zeit der sogenannten „Völkerwanderung“ war die pontische Steppe – etwa das Gebiet der heutigen Süd- und Zentralukraine – ein wichtiger Knotenpunkt der Bewegung von Gütern und Menschen. Sie bot fruchtbare Böden, teils dichte Wälder und weitreichende, schiffbare Flüsse mit Zugang zum Schwarzen Meer. Es verwundert daher nicht, dass die Region bereits früh besiedelt war und auch von skandinavischen Fernhändlern, den Warägern, frequentiert wurde. Der Name Rus’ leitet sich vom nordischen Wort für „Rudern“ ab und wurde erst in späteren Jahrhunderten auf die gesamte Region übertragen.

Während dieser quellenarmen Frühzeit kann man annehmen, dass sich mehrere Stämme an den Ufern der großen Flüsse des östlichen Europas niederließen. Hier errichteten sie befestigte Stützpunkte, von denen sie den Handel mit dem byzantinischen Reich sowie dem Mittleren und Fernen Osten betrieben. Legendärer Ahne eines dieser Stämme war ein Mann namens Rurik, dessen Herrschaftsverband bald selbst in Konstantinopel bekannt war. Kyjiv wurde zum zentralen Knotenpunkt, doch auch andere Städte wie Novgorod oder Suzdal’ florierten.

Nach einer berühmten Schilderung der ältesten rus’ischen Chronik, der „Povest’ vremennich let“ oder auch Nestor-Chronik,5 entsandte Fürst Volodymyr gegen Ende des 10. Jahrhunderts Gesandte zu allen großen Reichen jener Zeit, zu den lateinchristlichen Ottonen, ins orthodox-christliche Byzanz sowie zu den sog. Volga-Bulgaren, deren Führungsgruppen um die Mitte des 10. Jahrhunderts zum Islam konvertiert waren. Diese Gesandten berichteten ihm von den Bräuchen der einzelnen Religionen, woraufhin Volodymyr den orthodox-christlichen Glauben als den besten für die Rus’ erwählte und bald darauf sich sowie die gesamte Bevölkerung Kyjivs taufen ließ.

Was hier dem Narrativ des idealen, weisen Herrschers folgt, war de facto knallharte Realpolitik – von beiden Seiten. Der byzantinische Kaiser Basileos II. brauchte den militärisch potenten Bündnispartner und Volodymyr stieg durch diesen Bund in die erste Reihe der europäischen Herrscher jener Zeit auf. Neben der Taufe erhielt er auch die Schwester des Kaisers, Anna, zur Frau. Die Hand einer in Purpur – also im Kaiserpalast – geborene Prinzessin war eine große Ehre, um die sich beispielsweise zeitgleich die Ottonen vergeblich bemühten.

Auf diese Weise konsolidiert, erlebte die Kyjiver Rus’ im 11. Jahrhundert eine Blüte, von der das Kyjiver Höhlenkloster hoffentlich auch noch nach diesem Krieg zeugen wird. Kyjiv wurde Sitz des Patriarchen für die „gesamte Rus’“. Politisch war die Rus’ nach dem Senioratsprinzip organisiert, d. h. es gab mehr oder weniger autonome Teilfürstentümer, die jedoch die Oberhoheit des jeweils ältesten Bruders anerkannten, der in Kyjiv als Großfürst residierte. Diesen Status verlor die Stadt jedoch in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts. Es war dann Andrei Bogoljubs’kij, Fürst von Vladimir-Suzdal’, der 1169 mit der alten Tradition brach und die Großfürstenwürde nach Norden überführte. Der Sitz des Patriarchen wurde um 1300 verlegt, erst nach Vladimir, später nach Moskau.

Ein großer Teil der Kontroverse über das Erbe der Kyjiver Rus’ entspringt genau der Interpretation jenes Ereignisses: Waren die nördlichen rus’ischen Fürstentümer die logische Fortsetzung der Kyjiver Tradition? Immerhin blieben die Rurikiden hier bis zum Ende des 16. Jahrhunderts an der Macht. Oder gab es einen klaren Bruch zwischen der alten Rus’ und der „neuen“? Entgegen dieser linear anmutenden Translation von Kyjiv nach Moskau hat die ukrainische Geschichtsschreibung bereits im 19. Jahrhundert die Rolle der westlichen rus’ischen Fürstentümer betont, die im 13. Jahrhundert eine sehr aktive Rolle spielten. Doch – Kyjiv hin, Moskau her – formal standen alle rus’ischen Fürstentümer ab der Mitte des 13. Jahrhunderts unter der Oberherrschaft eines ganz anderen Großreiches.

Im November 2016 wurde im Beisein des russischen Präsidenten Vladimir Putin das Denkmal für den rus’ischen Großfürsten Volodymyr eingeweiht – eine bewusste Provokation in Richtung der Ukraine und eine Demonstration des russischen Anspruchs auf die Nachfolge der Kyjiver Rus’.
Bild: mos.ru, Памятник Владимиру Великому (Москва) в день открытия, CC BY 4.0

„Tatarenjoch“ oder das verschmähte Reich, in dem die Sonne niemals unterging

Die mongolische Expansion hat nach wie vor ein echtes Imageproblem. Selbst in jüngeren Überblicksdarstellungen findet sich noch der Begriff des „Tatarenjochs“. Tatsächlich verlief die Expansion dieses Großreiches sehr gewalttätig. Kyjiv wurde beispielsweise 1240 fast vollständig niedergebrannt. Dennoch war das mongolische Großreich – und besonders sein westlicher Ausläufer, das Khanat der Goldenen Horde – eine bemerkenswerte und auch langlebige Herrschaftsformation. Es gestattete den „unterjochten“ Gebieten weitgehende Autonomie und war zugleich Garant für ein weitgespanntes Handelsnetzwerk vom Schwarzen Meer bis in den Fernen Osten, weshalb von der Pax Mongolica, dem mongolischen Frieden, geschrieben wird. Genuesische Kaufmannskolonien auf der Krim beförderten die enge Bindung ans Mittelmeer. Wenn auch die Führungsschicht der Goldenen Horde zu Beginn des 14. Jahrhunderts überwiegend zum Islam übertrat, so war das Reich insgesamt durch eine große Vielfalt von Sprachen, Rechtsordnungen und Religionen geprägt; neben Muslimen seien Juden sowie beinahe alle zu jener Zeit existierenden christlichen Konfessionen – bspw. armenisch, orthodox oder lateinisch – genannt.

Gegen Ende des 14. Jahrhunderts geriet das Khanat der Goldene Horde nicht nur gegen die Großfürstentümer Moskau und Litauen in die Defensive. Bedeutende Siege gegen die Tataren wurden in beiden Reichen – 1362 für Litauen, 1380 für Moskau – zu bis in die Neuzeit wichtigen Identitätsressourcen, auch wenn auf sie genauso vernichtende Niederlagen folgen sollten. Das Khanat zerrieb sich zudem im Kampf mit seinen Konkurrenten um die Kontrolle der Handelsdrehkreuze im Kaukasus. Ärgster Widersacher war hier Timur Lenk, dessen Großreichsbildung jener von Dschingis Khan in nichts nachstand (weshalb er über seine heutige Indienstnahme als usbekischer Nationalheld wohl nur den Kopf schütteln könnte). Unter dem von Timur eingesetzten Edigü erlebte die Goldene Horde während der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts noch einmal eine zeitweilige Wiederherstellung alter Dominanz. Doch bald zeigten sich immer deutlichere Zerfallserscheinungen. Ähnlich wie die Kyjiver Rus’ spaltete sich das Khanat der Goldenen Horde in kleinere Herrschaftsbereiche auf, von denen das Khanat der Krim wohl das langlebigste war. Über mehrere Jahrhunderte konnte dort die herausragende wirtschaftliche Bedeutung der Halbinsel genutzt werden, um sich im Geflecht der Großreiche Polen-Litauens, Moskaus und der Osmanen zu behaupten. Erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts expandierte das russländische Reich in Richtung des Schwarzen Meeres, dessen Oberherrschaft über das Nordufer letztlich auch das osmanische Reich im Friedensvertrag von Iași 1791/1792 anerkennen musste. Doch im Grenzbereich der genannten Großreiche hatte sich noch eine weitere politische Entität herausgebildet, die deutlich größeres Interesse seitens der ukrainischen Nationalbewegung erregt hat.

Die Eroberung Vladimirs durch die Goldene Horde 1237 als Beispiel für das negative Bild der Tataren im östlichen Europa; dargestellt in der illustrierten Chronik Ivans IV. aus dem 16. Jahrhundert.

„How to get away with murder“ oder die vielen Gesichter des Bohdan Chmelnyc’kyjs

Bekanntlich leitet sich der Name „Ukraine“ vom slavischen Wort für „Grenze“ ab. Und kaum ein Herrschaftsverband symbolisiert diesen Grenzcharakter besser als die Kosaken. Keines der oben genannten Großreiche konnte die weiten Ebenen der heutigen südlichen und östlichen Ukraine kontrollieren. Dieses machtpolitische Vakuum wurde zum Ermöglichungsraum für die politische Organisation der Kosaken, eine ursprünglich wohl tatarischen Krieger-Schar (zumindest leitet sich der Name vom turko-tatarischen Ausdruck für „freie Krieger“ ab). Durch ihre Ablehnung der in den anderen Großreichen üblichen Leibeigenschaft übten sie für slawische Bauern, aber auch auf Stadtbürger und niedere Adlige eine wachsende Anziehungskraft aus. Die „Kosaken“ waren aber keine einheitliche Gruppierung. Die einzelnen Verbände – an deren Spitze jeweils ein Hetman stand – wurden nach den großen Flüssen benannt, an denen sie siedelten. So sprechen wir von Don-Kosaken genauso wie von Dnipro-Kosaken. Siedlungszentrum der Letzteren war das sogenannte „Land hinter den Stromschnellen“ (ukrainisch Saporižžja), weshalb sie als Saporoger Kosaken bezeichnet werden.

Für das Verständnis ihrer politischen Rolle muss man sich die politische Situation um 1600 vor Augen führen. Im Verlaufe des 16. Jahrhunderts hatte sich die polnisch-litauische Union verfestigt. Im Osten war der Aufstieg Moskaus zum Zentrum des Großfürstentums abgeschlossen; im Jahr 1547 ließ sich Ivan IV. hier zum Zaren krönen. Gleichzeitig befand sich das Osmanische Reich auf dem Höhepunkt seiner Macht. Mit dem Niedergang des byzantinischen Reiches hatte sich die Moskauer orthodoxe Kirche zunehmend von Konstantinopel emanzipiert. Im Jahr 1589 folgte als letzter Schritt die Gründung des Patriarchats von Moskau (und der ganzen Rus’). In Polen-Litauen fürchtete man den Einfluss Moskaus auf die eigene orthodoxe Bevölkerung, weshalb mit der Union von Brest 1596 eine „Unierte Kirche“ gegründet wurde. Die orthodoxen Kirchenfürsten in Polen-Litauen erkannten den Papst als ihr Oberhaupt an und erhielten im Gegenzug die Bestätigung ihres orthodoxen Ritus. Die griechisch-katholische Kirche ist die bis heute sichtbare Folge dieser Union und stellt gerade im Westen der Ukraine die verbreitetste Konfession dar. Gleichzeitig führten die Nordischen Kriege – in wechselnder Konstellation zwischen Schweden, Polen-Litauen und dem russländischen Reich – sowie die Konflikte mit den Osmanen und Krimtataren im Süden zu immer stärkeren konfessionellen Antagonismen innerhalb der multikonfessionellen Reiche. Für Polen-Litauen stellten die Kosaken eine wichtige militärische Ressource in diesen Konflikten dar, weshalb man eine bestimmte Anzahl an Kosaken-Verbänden in Dienst nahm und privilegierte.

In diesem Kontext stiegen die Saporoger Kosaken zu Gallionsfiguren der orthodoxen Opposition gegen die Unierte Kirche auf. Zentrum wurde das über Jahrhunderte im Schatten verbliebene Kyjiv. Hier erlebte das Höhlenkloster einen erneuten Aufschwung und entstand eine orthodoxe Akademie. Im Widerstand gegen die polnisch-litauische Dominanz kam es unter dem Hetman Bohdan Chmelnyc’kyj um die Mitte des 17. Jahrhunderts zu einem großangelegten Aufstand, der die gesamte heutige Ukraine bis nach L’viv erfasste. Die Stadt wurde wiederholt angegriffen und in Brand gesteckt. Dass heute eine ihrer großen nördlichen Hauptstraßen Chmelnyc’kyjs Namen trägt, ist ein gutes Beispiel für die Ambivalenz der nationalen Inanspruchnahme historischer „Helden“. Noch schlimmer traf es die jüdische Bevölkerung, die den besonderen Zorn der Kosaken auf sich zog, da sie vielfach als Pächter bzw. Amtsträger adliger Herren fungierte. Es kam zu blutigen Pogromen, die einen tiefen Schatten auf den oft nostalgisch-folkloristischen Kosaken-Mythos werfen.

Doch ähnlich wie die Übertragung der Großfürstenwürde von Kyjiv nach Moskau, so stehen die Kosaken auch für ein zweites Ereignis, das bis heute im Zentrum der Kontroverse zwischen russischen und ukrainischen Deutungen steht: Auf der Suche nach Unterstützung wandten sich die Saporoger Kosaken unter Chmelnyc’kyj einerseits nach Konstantinopel, aber auch nach Moskau. Die Verhandlungen zwischen Zaren und Kosaken kamen im Vertrag von Perejaslav 1654 zum Abschluss. Was für die Kosaken ein jederzeit kündbares Bündnis zwischen zwei unabhängigen Partnern war, interpretierte man in Moskau als dauerhafte Unterwerfung. Immerhin titulierte sich Zar Alexei in der Folge als Herrscher sowohl der „großen“, als auch der „kleinen Rus’“ – mit letzterem Ausdruck wird heute noch in Russland die Ukraine abschätzig bezeichnet.

Historisch eindeutig ist hingegen, dass das Bündnis nicht von Dauer war. Die Saporoger Kosaken schwenkten bald wieder auf die polnisch-litauische Seite ein. Das sogenannte Hetmanat stellte einen mehr oder weniger autonomen Herrschaftsverband dar, der erst mit dem Vorstoß des russländischen Reiches am Ende des 18. Jahrhunderts ein Ende fand.

Ungezähmt, frei und fröhlich. Solche Eigenschaften werden häufig mit den Kosaken assoziert. Hier im berühmten Gemälde von Ija Repin, in dem die Saporoger Kosaken einen Brief an den osmanischen Sultan verfassen.

Fazit

Damit möchte ich aus dem Brunnen der Geschichte wieder auftauchen. Aus manchen Quellen – wie der Taufe Volodymyrs oder dem Vertrag von Perejaslav – schöpfen die nationalen Geschichtsschreibungen ausgiebig, sowohl in der Ukraine als auch in Russland. Im Gegensatz dazu spielt die tatarische Vergangenheit der Region in den Geschichten der Nationsbildung kaum eine Rolle. Man könnte einwenden, dies wäre aufgrund der nicht-slavischen Ethnie und des islamischen Glaubens der Eliten innerhalb der Goldenen Horde vollkommen abwegig. Aber begeben wir uns nur für einen Moment einmal in das Feld der Spekulationen, obwohl besonders Historiker*innen dies tunlichst meiden sollten: Als großer Profiteur des derzeitigen Krieges wird womöglich China hervorgehen. Mit gewaltigen Ressourcen betreibt es bereits seit Längerem das Vorhaben einer „Neuen Seidenstraße“ – eine historische Referenz zur genannten Pax Mongolica. Wäre es dann so abwegig, wenn sich eine hoffentlich wieder prosperierende Ukraine auf ihre tatarische Vergangenheit als westlicher Außenposten eines den eurasischen Kontinent umspannenden Imperiums besinnen würde? Wäre eine solche Verbindungslinie zwischen Vergangenheit und Gegenwart treffender oder absurder als die derzeitigen Versuche, ethno-religiöse Nationsvorstellungen historisch zu unterfüttern?

Nein, denn „nonsense turned on its head remains nonsense“, wie Timothy Snyder so treffend über Metageschichten schrieb: „Unsinn auf den Kopf gestellt bleibt weiterhin Unsinn.“6 Die Geschichte der Ukraine lässt sich nun einmal nicht ohne die umliegenden Großmächte erzählen. Daraus kann man aber weder – wie der russische Präsident7 – ableiten, dass die Ukraine kein Anrecht auf einen eigenen Staat hätte. Genauso abwegig ist es, historisch ergründen zu wollen, ob der Islam zu Europa gehört oder nicht. Bei knapp sieben Prozent bekennenden Muslimen in Europa im Jahr 2020 stellt sich diese Frage einfach nicht. Olga Shparaga hat für den belarusischen Fall sehr klug argumentiert, dass es für multiethnische, multireligiöse Geschichtsregionen wie das östliche Europa eigentlich nur den Weg einer Nationsbildung über ein Staatsbürgerschaftsverständnis gibt.8

Ein solcher Staat mit einem reichen, vielfältigen und widersprüchlichen historischen Erbe ist die Ukraine seit 1991. Und abseits aller Statistiken über Religionszugehörigkeit oder Muttersprache im Osten und Westen dieses Landes, war und ist das Bekenntnis, Bürger*innen eben genau dieses Staates zu sein, seitdem sehr hoch. Man kann nur mutmaßen, ob der Kreml seinen eigenen diffusen Meta-Geschichten auf dem Leim gegangen ist, als er diesen Krieg entfesselte. Die Opfer und Kosten, vor allem für die ukrainische Bevölkerung, sind jedenfalls unerträglich hoch. Dieser gilt unsere volle Unterstützung und Solidarität. Die Gegenwart ist und bleibt eben viel wichtiger als die Geschichte.


Weiterführende Literatur


  1. Valentyn Akudovyč, Der Abwesenheitscode. Versuch, Weißrussland zu verstehen. Frankfurt/Main, S. 11. []
  2. Alexander Sembdner, „Ohne Quellen keine Geschichte…“ – aber ohne Theorien geht es auch nicht, in: Robert Friedrich et al. (Hrsg.), Doing History. Praxisorientierte Einblicke in Methoden der Geschichtswissenschaften. Leipzig 2018, S. 17–28 []
  3. Interview der BILD mit Helmut Schmidt vom 16.05.2014 (Zugriff: 13.05.2022) []
  4. Benedict Anderson, Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism. London / New York 21991. []
  5. Peter Hauptmann / Gerd Stricker, Die Orthodoxe Kirche in Rußland. Dokumente ihrer Geschichte (860–1980), Göttingen 1988, S. 56–69. []
  6. Timothy Snyder, The Reconstruction of Nations. Poland, Ukraine, Lithuania, Belarus 1569–1999. New Haven / London 2003, S. 10. []
  7. Siehe den Abdruck des Textes von Putin in deutscher Übersetzung mit kritischer Einordnung in: Osteuropa, 71 (2021), 7. []
  8. Olga Shparaga, Die Revolution hat ein weibliches Gesicht. Der Fall Belarus. Berlin 2021. []