Was ist eigentlich Donbass und von wem wird er bewohnt? Antworten mit Blick auf Raum, Sprache, Identität, Separatismus und Literatur.
Während die ganze Welt gebannt auf den Krieg in der Ukraine schaut, gibt es nach wie vor ein Land in Europa, in dem vom Krieg keine Rede ist. Dieses Land ist Russland. Der Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine wird im offiziellen Sprachgebrauch des Kreml und der russischen Staatsmedien „Spezialoperation zur Verteidigung der Volksrepubliken Donezk und Luhansk“ oder schlicht „Sonderoperation im Donbass“ genannt. Das Ziel der Operation sei die „Entmilitarisierung und Entnazifizierung der Ukraine“, um den drohenden „Völkermord an der russischsprachigen Bevölkerung im Donbass“ zu verhindern. Da die Ukraine vor dem russischen Einmarsch am 24. Februar 2022 etwa zwei Drittel der Verwaltungsgebiete Donezk und Luhansk kontrollierte, wurde der Genozid-Vorwurf, gepaart mit Russlands Anerkennung der „Volksrepubliken“ in den administrativen Grenzen der ukrainischen Gebiete, zu einem „veritablen“ Kriegsgrund.
Die Verdrehung der Wahrheit gehört nicht erst seit Kurzem zum Repertoire der russischen Staatsführung. Ohne dieser Kriegsrhetorik Glauben zu schenken, lohnt es sich dennoch auf das Konstrukt des „russischsprachigen Volkes vom Donbass“ genauer einzugehen – schließlich ist der Donbass seit mehr als acht Jahren Schauplatz eines zähen Ringens zwischen den ukrainischen Streitkräften und den (pro-)russischen „Volksmilizen“ aus Donezk und Luhansk.
Was ist eigentlich Donbass und von wem wird er bewohnt?
1. Raum
Das Donezbecken (russ. doneckij basein), kurz Donbass, ist ursprünglich kein topographischer, politischer oder kultureller, sondern vor allem ein geologischer Begriff. Er bezieht sich auf die Kohlevorkommen im Becken des namensgebenden Flusses Siwerskyj Donez, die seit späten 19. Jh. einen rasanten Anstieg der lokalen Schwerindustrie ermöglicht haben. Die Zugehörigkeit zum Donbass bzw. die Markierung bestimmter Ortschaften und Gegenden als Teil des Donbass wurde daher nicht an der Erdoberfläche, sondern mehrere hundert Meter unter der Erde entschieden. Zum „historischen Donbass“ zählen nicht nur die russischsprachigen Ballungsräume Donezk und Luhansk, sondern etwa auch die ukrainisch geprägten Agrarregionen, die griechischen Siedlungen an der Küste des Asowschen Meeres und sogar Teile des Gebiets Rostov (in der heutigen Russländischen Föderation).
2. Sprache
Die Russischsprachigkeit des Donbass ist ebenfalls ein hybrides Phänomen. Wie die meisten anderen Ukrainer*innen sind die Menschen im Donbass größtenteils bilingual, wobei das Russische in der alltäglichen Kommunikation dominiert. Russisch als high variety hat sich in Donbass endgültig erst in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg etabliert. Das Ukrainische galt zu dieser Zeit als Sprache der ländlichen Gegenden, was unter Umständen der forcierten Urbanisierung und Industrialisierung der Region besonders deutlich als Zeichen kultureller und sozialer Rückständigkeit wahrgenommen wurde: Wer in die Stadt zog, neigte dazu, auf Russisch umzusteigen und das Ukrainische nur in der Kommunikation mit Verwandten zu benutzen.
3. Identität
Ähnlich wie andere Montanreviere (z. B. Ruhrgebiet) ist der heutige Donbass als eine translokale Entität zu begreifen, d .h. als Gebiet, das über keine klaren administrativen oder natürlichen Grenzen verfügt, sondern erst in verschiedenen Narrativen (etwa in Literatur und Film) – und oft in der nostalgischen Rückschau – an Konturen und Festigkeit gewinnt.
Seit Sowjetzeit waren in dieser Region die Industriekultur und das Arbeiterethos eine Quelle des kollektiven Stolzes und Eckpfeiler der lokalen Identität. Allerdings wurden die meisten Industrieanlagen und Maschinen bereits seit den 1970er Jahren kaum modernisiert oder umstrukturiert, sondern einfach weiter ausgebeutet. Als typisches Altindustriegebiet verfügt der Donbass über einen Industriebestand aus der Frühphase der Industrialisierung mit unflexiblen Großbetrieben sowie einer hohen Industriedichte bei unterdurchschnittlichem Wirtschaftswachstum. Vor diesem Hintergrund mutierte die Erinnerung an die Sowjetzeit zu einem Mythos vom „goldenen Zeitalter“, in der die Region noch als Motor der sowjetischen Industrie galt. Gerade diese Mythologie machte die lokale Bevölkerung für die neo-sowjetische Propagandarhetorik besonders empfänglich.
4. Separatismus
Vor 2014 gab es im Donbass keinen ausgeprägten kulturellen, geschweige denn politischen Separatismus oder Irredentismus. Die Bevölkerung auf beiden Seiten der russisch-ukrainischen Grenze war davon überzeugt, dass die Grenze für Menschen und Waren in beide Richtungen passierbar sein sollte. Vor eine geostrategische Wahl zwischen Europa und Russland gestellt, haben die Donbass-Bewohner wohl nicht die pro-europäischen, demokratischen Aspirationen der Euromajdan-Bewegung als solche abgelehnt, sondern eigentlich die Situation, in der man überhaupt eine geopolitische Wahl treffen muss.
Auf die gesamten Gebiete Donezk und Luhansk bezogen, unterstützte jeweils nur ein Drittel der Bevölkerung die Idee einer stärkeren Angliederung an Russland, ein weiteres Drittel wollte sich mit einer Autonomie für den Donbass zufriedengeben, und ein Drittel wollte den Status quo erhalten (so die Ergebnisse einer Umfrage des Kiewer Internationalen Instituts für Soziologie, die im Frühjahr 2014, d. h. noch vor den aktiven militärischen Auseinandersetzungen durchgeführt wurde). Das Pseudo-Referendum über die Schaffung von „Volksrepubliken“ wurde in einer Situation des Machtvakuums und nur in wenigen Städten (vor allem im Ballungsraum Donezk) sowie unter Ausschluss unabhängiger Wahlbeobachter abgehalten. Daher ist schlichtweg nicht bekannt, welcher Anteil der Bevölkerung tatsächlich an dem „Referendum“ teilgenommen hat.
Ebenso wenig kann man von einem russischen „Volksaufstand“ in der Region sprechen. Die Teilnehmerhöchstzahl an den pro-russischen Kundgebungen in der Millionenstadt Donezk betrug etwa 30.000 bis35.000 Menschen, die Höchstzahl der Menschen, die Verwaltungsgebäude stürmten und sich anschließend an Einheiten der „Volksmiliz“ beteiligten etwa 1500 bis 2000.
6. Literatur
Während die Teilnahme russischer Staatsbürger an den Kriegshandlungen in diesen Gebieten seit Ausbruch des Konflikts zum Gegenstand hitziger Diskussionen geworden ist, erweist sich die Glorifizierung russischer „Freiwilliger“ und ihrer Teilnahme an den Kämpfen in der Ostukraine zunehmend als ein Leitthema der literarischen Produktionen und wird in diesen Texten mit einer fast schon ergreifenden Direktheit und Schlichtheit zum Ausdruck gebracht. Eine Illustration dafür liefert der 2017 veröffentlichte Sammelband „Vybor Donbassa“ (dt. „Die Wahl des Donbass“): Der Band, an dem Schriftsteller aus Jaroslavl‘, Moskau, Orenburg, Čeljabinsk und anderen russischen Regionen mitgewirkt haben, verdeutlicht, dass die vermeintliche „Donbasser Wahl“ überwiegend außerhalb des Donbass getroffen wurde.
Beitragsbild: Poor Collecting Coal by Nikolay Kasatkin: Donbas, 1894.