Patriarchale Elemente sind zentral für Putins Herrschaft. Ein Interview über Chauvinismus, Personalisierung und das System Putin.

„Starke Männer – Figuren disruptiver Politik in transnationaler Perspektive“, so lautete der Titel einer Online-Tagung des Sonderforschungsbereichs „Helden – Heroisierungen – Heroismen“ der Universität Freiburg am 24. und 25. März 2022. In einem der Vorträge setzte sich Politikwissenschaftler Fabian Burkhardt mit „Putin: Der schwache starke Mann Russlands“ auseinander. Aus diesem Anlass führte der Journalist Alexander Dick mit ihm ein Interview, das zunächst in der Badischen Zeitung erschien.

Herr Burkhardt, als Sie Ihren Vortrag über Wladimir Putin für die Freiburger Tagung konzipierten, war vermutlich noch nicht abzusehen, welches Inferno der russische Präsident in Gang setzen würde. Hat sich dadurch etwas grundlegend in Ihrer Einschätzung verändert?

Burkhardt: Zunächst überwog das Gefühl des Schocks. Aber natürlich wird es jetzt darum gehen zu reflektieren, inwieweit dieser Krieg unser Bild von Russland, von Putin selbst revidiert. Wir haben sehr viel über das Putin-Regime gewusst: Es ist personalistisch und autoritär, mit zunehmender Tendenz zu totalitärer Propaganda und Führerkult. Diese Personalisierung der autoritären Herrschaft hat sich in den vergangenen Jahren deutlich verschärft – und damit die Wahrscheinlichkeit eines in außenpolitischer Hinsicht deutlich aggressiveren Agierens. Damit wird es auch immer weniger denkbar, dass Putin freiwillig aus dem Amt ausscheidet. Das beeinflusst die Kalkulation eines solchen Herrschers in Bezug auf seine Entscheidungsfindung. Er wird sich immer weiter verbeißen. In der Gesamtschau war das alles bekannt – überrascht hat die Größenordnung und Brutalität seines Vorgehens in der Ukraine.

Kann diese Klimax zu immer autokratischerem Führungsstil auch etwas damit zu tun haben, dass so jemand wie Putin sich komplett von Korrektiven abschottet? Sie bezeichnen ihn in Ihrem Vortragstitel ja als „schwachen starken“ Mann.

Burkhardt: Absolut. Das Paradoxon ist bewusst entlehnt aus einem Putin-Buch des amerikanischen Politikwissenschaftlers Timothy Frye – „Weak Strongman“. Das ist für das Verständnis autoritärer Herrschaften sehr wichtig: Der Keim der Schwäche ist in der vermeintlichen Stärke angelegt. Denn alles ist sehr stark in Repression begründet. Auch die wirtschaftliche Leistung beeinträchtigt das, weil auf Dauer nur loyale Kader im Staat verbleiben und Kompetenz nicht im Vordergrund steht. Dadurch ist so ein System sehr fehleranfällig, weil die Feedbackmechanismen nicht mehr funktionieren.

Auch jenseits von Russland sind autokratische und populistische Tendenzen im 21. Jahrhundert nicht zu übersehen? Müssen wir mit diesem Führungsmodell in diesem Jahrhundert verstärkt rechnen?

Burkhardt: Die Frage ist tatsächlich mit Blick auf Russland: Ist das ein anachronistisches Modell? Wenn wir uns Untersuchungen über den Stand der Demokratie und auch der Autokratie in der Welt anschauen, müssen wir aktuell von einer Phase sprechen, die man als Re-Autokratisierung bezeichnen kann: Immer mehr Menschen leben unter nicht-demokratischen Regierungsformen. Es muss sich zeigen, inwiefern Putins Krieg wieder zu einer Stärkung der Demokratie führt. Gleichzeitig muss man schon zwischen Populisten und Autokraten unterscheiden. Ich würde Putin nicht als Populisten bezeichnen: Seine Politik ist sehr stark elitär, auf einen kleinen Machtzirkel, ausgerichtet, weniger auf das Volk.

Wenn wir also darüber spekulieren, wie Russland einmal aussehen könnte, wenn es sich in eine demokratische Richtung bewegen sollte: Dann wird die Demontage dieses Machismo eine wichtige Rolle spielen.

Fabian Burkhardt

Was wir bei diesem System Putin nicht übersehen können: Es handelt sich um ein absolut patriarchales. Treibt der männliche Chauvinismus neue Blüten?

Burkhardt: Das würde ich auch so einschätzen: Die patriarchalen Elemente sind zentral für Putins Herrschaft. Denken wir an die Bilder von ihm: mit nacktem Oberkörper, beim Jagen und Fischen. Klassischer Machismo zeichnet seine Herrschaft auch visuell aus. Und mit Blick auf die Ukraine: Kurz vor dem Krieg hat er einen doch sehr aufschlussreichen Spruch getätigt, der auf einen Vierzeiler aus der russischen Folklore zurückgeht und in sehr obszöner Sprache verfasst ist: „Meine Liebste liegt im Grab, ich hab’ mich an sie geschmiegt und sie gef…ckt – ob es dir gefällt oder nicht: Schlaf, meine Schöne!“ Der ukrainische Präsident Selenskyj hatte damals noch humorvoll darauf geantwortet: Die Ukraine sei sicher eine Schönheit, aber er sei sich nicht sicher, dass sie Russland gehöre. Doch Geduld sei Ausdruck ukrainischer Weisheit. Ich glaube, dieser Spruch ist charakteristisch für Putins Denken und seine patriarchalische Herrschaftsform, die auch eine Form von Vergewaltigung ist nach innen wie nach außen. So wie er Russland als Hochburg einer traditionellen Form des Verhältnisses von Mann und Frau betrachtet, während er als Homophober Europa auch als Gayropa sieht.

Wäre eine „feministische Politik“ als Reaktion auf ihn in Russland eine vorstellbare Option? Strongwomen…?

Burkhardt: Es gibt in der russischen Elite zwar einige prominente Frauen, aber die Faustregel lautet: Je höher in der Hierarchie, desto weniger Frauen sind dort vertreten. Trotzdem ist Putin mit zunehmender Dauer seiner Herrschaft und vor allem während der Pandemie vom virilen Mann zum Großvater mutiert, der sich in seinem Bunker immer mehr zurückgezogen hat, mit riesengroßen Abständen zu denen, die ihn umgeben. Denken Sie an den langen Tisch, an dem er seine Gäste empfängt. Wenn wir also darüber spekulieren, wie Russland einmal aussehen könnte, wenn es sich in eine demokratische Richtung bewegen sollte: Dann wird die Demontage dieses Machismo eine wichtige Rolle spielen, denn Demokratie geht einher mit Geschlechtergleichheit und Respekt zwischen Mann und Frau.


Beitragsbild: Kremlin.ru, Vladimir Putin Cockpit TU-160 Bomber, CC BY 4.0