Vieles von dem, was heute als typisch für das Putin-Regime gilt, war schon früh angelegt. Ein Beispiel ist der Kampf des Präsidenten gegen die Satireshow „Kukly“.
Zu den derzeit in Mittel- und Westeuropa gerne wiederholten Binsen gehört der Hinweis darauf, wie sehr „man“ sich von Putin habe täuschen lassen und dass „wir uns“ nicht haben vorstellen können, zu was dieser Mann alles fähig sei. Dabei ist in der Fachliteratur zu Russland und zum postsowjetischen Raum immer wieder nicht nur vor den politischen Konzepten des russischen Präsidenten gewarnt, sondern auch auf seine charakterlichen wie ethischen Defizite verwiesen worden. Ein Beispiel für dessen Komplexe gab es schon früh – der Kampf gegen eine Satireshow im russischen Sender NTV, die Putin zur Hauptfigur einer Adaption von E. T. A. Hoffmanns „Klein Zaches, genannt Zinnober“ machte, beinhaltete vieles von dem, was typisch für das Putin-Regime ist.
Von Beginn an unter Druck
Am 19. November 1994 wurde auf dem russischen Fernsehkanal „Nezavisimoje televidenije“ (NTV, dt. Unabhängiges Fernsehen), der damals seinen Namen noch zu recht trug, die erste Folge einer Satireshow namens „Kukly“ (Puppen) ausgestrahlt. Das grundlegende Konzept übernahm man aus Großbritannien. Dort lief von 1984 bis 1996 mit „Spitting Image“ das Vorbild für eine ganze Reihe ähnlich gelagerter Satiresendungen – mit karikaturartigen Latexpuppen wurden Politiker vor allem aus Großbritannien und den USA parodiert, wenn nicht gar der Lächerlichkeit preisgegeben.[1] Dieses Konzept wurde in Frankreich mit leichten Veränderungen für „Les Guignols de l’info“ übernommen, und von dort wiederum kaufte NTV im Jahre 1994 die Rechte für einen russischen Ableger. Was „Kukly“ nach einigen schwachen ersten Episoden schließlich auszeichnete, waren beständige Rückgriffe auf russische und europäische Kultur sowie die Weltkultur. Die Produzenten nahmen Romane, Opern, Märchen oder aktuelle Fernsehserien aus Europa und den USA, gelegentlich auch historische Ereignisse zur Grundlage ihrer Geschichten, deren Protagonisten dann vom politischen Personal Russlands in Puppenform gestellt wurden. Die einzelnen Folgen waren mit 10 bis 13 Minuten Laufzeit recht kurz.
Von Anfang an stand die Satireshow unter politischem Druck, und dies nicht nur wegen der Darstellung von Präsident Boris Jelzin als senilem, dem Trunke zugetanen Trottel. So wurde im Herbst 1999 die Korruptionsaffäre um den damaligen Leiter der Immobilienverwaltung des russischen Präsidenten, Pavel Borodin, publik gemacht mit der Folge, dass der Gründer des Senders NTV, Vladimir Gusinskij, für mehrere Wochen in Untersuchungshaft kam und, wenn auch vergeblich, zur Übergabe des Senders in die Hände eines staatlichen Konsortiums aufgefordert wurde.[2] Doch zu einer existenzbedrohenden Krise sollte eine Folge führen, die kurz nach der Machtübernahme Vladimir Putins ausgestrahlt wurde.
Als Boris Jelzin am 31. Dezember 1999 das Präsidentenamt niederlegte, übernahm der damalige Ministerpräsident Vladimir Putin verfassungskonform die kommissarische Führung der Amtsgeschäfte bis zur Neuwahl eines Präsidenten. Jelzin erklärte Putin zum Wunschkandidaten für seine Nachfolge; umgekehrt gewährte Putin per Dekret Jelzin Straffreiheit für Handlungen während dessen Amtszeit. Die Präsidentschaftswahl vom 26. März 2000 gewann Putin gleich im ersten Wahlgang mit 52,9 Prozent der Stimmen.
Ein Joker im Wahlkampfspiel
Natürlich war Putin bereits seit seiner Wahl zum Ministerpräsidenten ein Ziel der Satiriker von „Kukly“, und seine Latexpuppe hatte damals die Anmutung eines Schulbuben. Immer mit Hemd und Weste bekleidet, wurde auch stets auf die geringe Körpergröße Putins angespielt. Hinzu kamen eine quakende Stimme und eine hektische, abgehackte Sprechweise. Viktor Šenderovič, einer der Hauptautoren bei „Kukly“, erinnert sich an seinen Gedanken anlässlich der Jelzin‘schen Kandidatenkür – der arme Kerl sei gepackt und zum Joker im Wahlkampfspiel gemacht worden, und eigentlich müsse er sich doch immer kneifen, um zu schauen, ob das nicht alles ein Traum sei. Und so sei das Team auf die phantastische Märchenwelt des E. T. A. Hoffmann gekommen.[3]
Die Episode, die aus dieser Idee entstand, hieß „Kroška Caches“ und wurde am 30. Januar 2000 ausgestrahlt. Sie folgt dem Handlungshauptstrang des Hoffmann‘schen Kunstmärchens von „Klein Zaches, genannt Zinnober“ aus dem Jahre 1819 sehr genau: Der kleine und des Laufens und Sprechens kaum fähige Zaches wird im Märchen durch die Zauberkraft einer Fee mit der Gabe versehen, seinen Mitmenschen als hübscher und gebildeter Jüngling zu erscheinen, dem alles, was Anderen in seiner Gegenwart gelingt, zugeschrieben wird. So kann er um die schönste Frau buhlen und bis ins Ministeramt aufsteigen, während es fähigen Männern nicht gelingt, gegen ihn anzukommen. Erst als ihm die für den Zauber notwendigen drei feuerfarbenen Haare ausgerissen werden, verfliegt das Trugbild. Mit einem Mal werden die Menschen seiner wahren Gestalt und seiner mangelnden Bildung gewahr, und Zaches muss fliehen, nur um wenig später zu sterben. In der „Kukly“-Episode wird nun Putin als hässlicher und krakeelender Zwerg dargestellt, dessen Vater Boris Jelzin nicht weiß, was er mit ihm anfangen soll, vor allem, da seine anderen Kinder hübscher waren und er nicht einmal genau sagen kann, woher dieser Gnom eigentlich stamme. Da erscheint die Fernsehfee in Gestalt des Oligarchen und Fernsehtycoons Boris Berezovskij, und durch die Magie ihres Fernsehkamms, mit dem sie den kleinen Vladimir kämmt und ihm drei rote magische Haare hinzuzaubert, wird dieser von allen Menschen als gutaussehend und intelligent wahrgenommen. Wie Klein Zaches im Hoffmann‘schen Märchen plappert Putin nur Unsinn und ist zu keiner vernünftigen Tat fähig, doch die Magie der Fee lässt ihn allen als großgewachsen, gebildet und kultiviert erscheinen, während für alles, was ihm danebengeht, sich die Kabinettsmitglieder gegenseitig verantwortlich machen. Untermalt wird die phantastische Handlung immer wieder durch die Abfolge von fünf Tönen aus „Unheimliche Begegnung der Dritten Art“, mit der die Aliens ihre Ankunft auf der Erde signalisieren. Schließlich kommt der liberale Oppositionspolitiker Grigori Javlinskij hinter das Geheimnis der drei roten Haare. Bei einem öffentlichen Auftritt Putins reißt er sie ihm aus – und allen sehen ein zwergenhaftes und herumschreiendes Männlein, das auf Stummelbeinchen Reißaus nimmt. Javlinskij aber erwacht, einen Band des „Klein Zaches“ auf dem Bauch – es war alles nur ein seltsamer Traum.
Die Reaktion aus dem Kreml ließ nicht lange auf sich warten. Am 8. Februar veröffentlichten in den Sankt-Peterburgskije Vedomosti mehrere Mitglieder der Staatlichen Universität von Sankt Petersburg, darunter deren Rektorin Ljudmila Verbitskaja und der Dekan der Juristischen Fakultät, eine Erklärung, in der sie den Machern von „Kukly“ vorwarfen, mit der Darstellung Putins in jener Folge gegen den §319 des russischen Strafgesetzbuches – Öffentliche Beleidigung eines Vertreters der Behörden in Ausübung seiner amtlichen Tätigkeit oder im Zusammenhang mit der Ausübung dieser Tätigkeit – verstoßen zu haben. Auch sei die Folge ein Beispiel für den Missbrauch der freien Meinungsäußerung.[4] Alle Unterzeichner gehörten der Initiativgruppe der Universität zur Unterstützung des Kandidaten V. V. Putin an. Viktor Šenderovič versuchte, der Sache nachzugehen, und erfuhr dabei, dass staatlicherseits besonders die Anspielungen auf Putins geringe Körpergröße als beleidigend empfunden worden seien.[5] Hier zeigt sich bereits eine der typischen Methoden der Putin-Administration im Vorgehen gegen Gegner – die Vermengung einer an sich rationalen Argumentationslinie (Strafrecht, genaue Nennung eines Paragraphen) mit einer aus der Luft gegriffenen Behauptung zur freien Meinungsäußerung, die kommentarlos verquickt werden. Begriffliche Verwirrung ist intendiert, und einer sachlichen Diskussion wird auf diese Art die Grundlage entzogen. Vor allem aber war ein Signal gesetzt worden, der Gegner war eindeutig identifiziert.
Daumenschrauben angezogen
Im Mai 2000 tauchte, Šenderovič zufolge, ein hoher Regierungsbeamter bei der Media-Most Holding auf, zu der auch NTV gehörte. Dieser legte den Verantwortlichen eine Liste vor mit Hinweisen vor, wie eine Razzia bei der Holding verhindert werden könnte. Hauptforderungen waren eine Korrektur der Berichterstattung über den Zweiten Tschetschenienkrieg und eine Absetzung von „Kukly“. Der Sender reagierte darauf, indem er diese Unterredung öffentlich machte und zugleich zusagte, die inkriminierte Putinpuppe nicht mehr zu verwenden. Stattdessen zeigte man in der nächsten Folge (und nur in dieser) eine Wolke und einen brennenden Busch, beide die Körperform Putins nachahmend, wobei der Name Putins stets nur umschrieben wurde, als wäre es ein Tabu, ihn auszusprechen.[6]
Ab Januar 2001 wurden die Daumenschrauben dann angezogen, denn NTV hörte nicht mit seiner kritischen Berichterstattung auf – so wurden der Untergang der „Kursk“ am 12. August 2000 und die Rettungsmaßnahmen publik gemacht und kritisch diskutiert; auch die Berichterstattung zum Tschetschenienkrieg hatte sich nicht geändert. Plötzlich stand eine der Nachrichtensprecherinnen des Senders im Verdacht, für einen Kredit zur Finanzierung ihrer Wohnung einen Gesetzesverstoß begangen zu haben. Die Staatsanwaltschaft äußerte sich öffentlich zu dem Fall, es wurden in diesem Zusammenhang Namen fallengelassen, ohne dass es zu Ermittlungen gekommen wäre … Es wurde also am Ruf der Mitarbeiter des Senders gekratzt, wo es nur möglich war.[7] Im April 2001 verließ Viktor Šenderovič mit einem großen Teil des Kreativteams von „Kukly“ den Sender,[8] nachdem Gazprom in einem dubiosen Manöver zum Hauptanteilseigner von NTV geworden war. Zwar wurden weitere Folgen produziert, aber deren Qualität ließ deutlich nach, und im Laufe des Jahres 2002 wurde die Sendung auf einen höchst unattraktiven Sendeplatz verschoben – Sonntagabend nach 22 Uhr, ohne Wiederholung an einem Werktag. Am 29.12.2002 war mit Folge 363 das Ende für „Kukly“ gekommen.
Die Episode „Kroška Caches“ (mit engl. Untertiteln) ist hier abrufbar.
Beitragsbild: Kremlin.ru, Putin Kukli, beschnitten, CC BY 4.0
[1] Robin OAKLEY, Spitting Image, in: Annabel MERULLO / Neil WENBORN (Hgg.), British Comedy Greats. London 2003, 152–156.
[2] Viktor SHENDEROVICH, Tales From Hoffman, Index on Censorship 37 (2008), H. 1, 48–57, 50.
[3] Ebenda, 49.
[4] Zajavlenije, Sankt-Peterburgskije Vedomosti vom 8. Februar 2000, S. 2 oben, unter <https://vivaldi.nlr.ru/ap000052067/view/?#page=2>, 2.6.2022.
[5] SHENDEROVICH, Tales From Hoffman, 50.
[6] Ebenda, 50f.
[7] Ebenda, 51.
[8] На НТВ вернулся главный редактор программы «итоги», Fakty i komentarii vom 27. April 2001, unter <https://fakty.ua/95992-na-ntv-vernulsya-glavnyj-redaktor-programmy-quot-itogi-quot>, 5.6.2022.
Kommentare von Peter Mario Kreuter