Griechenland erlebt eine Zäsur: Erstmals unterstützt die Regierung in einem Konflikt vorbehaltlos die Haltung von NATO und EU. Doch längst nicht jeder findet das gut.

Mit deutlichen Worten prangerte der griechische Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis am 24. Februar den russischen Überfall auf die Ukraine an. Griechenland achte die territoriale Integrität, Souveränität und Unabhängigkeit aller Länder und verurteile alle dem zuwiderlaufenden revisionistischen Bestrebungen. Das russische Vorgehen sei beispiellos, und man werde gemeinsam mit den Partnern in der EU und der NATO darauf reagieren. Die Regierung beschloss, dem angegriffenen Land mit militärischem Material – v. a. leichte Waffen wie Schnellfeuergewehre und Raketenwerfer – sowie humanitären Hilfsgütern beizustehen.[1] Die entschlossene Haltung der Regierung und der Regierungspartei Nea Dimokratia (ND) fand die uneingeschränkte Unterstützung der zweitgrößten Oppositionspartei, der aus der sozialistischen PASOK hervorgegangenen KINAL (Bewegung für Wandel).[2]

Doch die Solidarität mit der Ukraine beschränkte sich im Parlament weitgehend auf diese beiden Parteien. Oppositionsführer Alexis Tsipras verurteilte zwar den russischen Einmarsch und forderte die Rückkehr zur Diplomatie. Doch sein linkspopulistisches Bündnis der radikalen Linken (SYRIZA) legte ansonsten, wie zuvor schon in diesem Zusammenhang, Ambivalenz an den Tag. Die Lieferung von militärischem Material an die Ukraine wurde abgelehnt, weil dies Griechenland gefährden könne. Im Europäischen Parlament stimmten die Abgeordneten der Partei auch nicht einem finanziellen Hilfspaket an die Ukraine in Höhe von 1,2 Milliarden Euro zu, sondern enthielten sich. Giorgos Katroungalos, der außenpolitische Sprecher der Partei, kritisierte die Regierung wegen ihrer klaren Position. Sie hätte stattdessen, wie die Türkei, für beide Seiten offen bleiben müssen. Ziel müsse sein, den Krieg zu beenden, nicht ein Regimewechsel in Russland; jene, die einen solchen anstrebten, seien letztlich bereit, das ukrainische Volk ihren eigenen politischen Zielen zu opfern.[3]

Als SYRIZA gemeinsam mit den ultranationalistischen und besonders putinophilen  „Unabhängigen Griechen“ (ANEL) regierte (2015–2019), standen die griechisch-russischen Beziehungen auf einem Höhepunkt. Sie verschlechterten sich erst gegen Ende von Tsipras‘ Amtszeit, als Moskau das Abkommen von Prespa (2018), mit dem der jahrzehntelange Namensstreit mit dem nördlichen Nachbarland Makedonien beendet wurde, zu hintertreiben versuchte.

Nicht ambivalent, sondern eindeutig anti-westlich war die Haltung der Kommunistischen Partei (KKE), die in ihrem Glauben an die Dogmen des Marxismus-Leninismus nicht zu erschüttern ist. Sie machte die „Imperialisten“ verantwortlich, die USA, NATO und EU, die in der Ukraine eine Marionettenregierung installiert hätten. Deren erbarmungslose Angriffe auf das Volk des Donbass hätten Russland zum Eingreifen veranlasst.[4] Die „Front des europäischen realistischen Ungehorsams“ (MERA 25), die Partei des früheren kurzzeitigen Finanzministers Gianis Varoufakis, schrieb dem Westen und Moskau gleichermaßen Verantwortung zu. Varoufakis empfahl der Ukraine gönnerhaft, den Konflikt durch Finnlandisierung zu lösen. Seine Behauptung, Österreich und Finnland hätten als neutrale Länder während des Kalten Krieges mehr Freiheit und Demokratie genossen als die Länder in der NATO, riefen den früheren finnischen Ministerpräsidenten Alexander Stubb auf den Plan, der Varoufakis dazu aufforderte, keine Desinformation mehr zu verbreiten.[5]

Am rechten Rand des Parlaments bekannte sich der Vorsitzende der ultranationalistischen Griechischen Lösung (EL), Kyriakos Velopoulos, noch nach Kriegsbeginn dazu, ein Bewunderer Putins zu sein. Zwar verurteilte er den Einmarsch, Solidarität mit der Ukraine kam für ihn aber nicht in Frage, da dieses Land Griechenland unfreundlich gesinnt sei – weil es gute Beziehungen zur Türkei pflege und türkische Drohnen einsetze.[6]

Eine Ansprache des ukrainischen Präsidenten Volodymyr Zelens´kyj vor dem griechischen Parlament lehnten diese drei Parteien ab, konnten sie aber (mit nur 34 von 300 Abgeordneten) nicht verhindern und blieben ihr darauf fern. Aber auch von den SYRIZA-Abgeordneten, deren Fraktion sich für die Rede ausgesprochen hatte, erschienen weniger als die Hälfte, die Zelens´kyj entweder überhaupt nicht oder nur selten applaudierten.[7] In seiner Rede am 7. April erwähnte der ukrainische Präsident die bis in die Zeit der Kiever Rus´ und deren Christianisierung zurückreichenden Beziehungen der beiden Länder und die jahrhundertealte Präsenz der griechischen Minderheit in der Ukraine, insbesondere deren Verbindung mit der belagerten Stadt Mariupol. Für sein Land griff er die Losung des griechischen Unabhängigkeitskriegs im 19. Jahrhundert, „Freiheit oder Tod“, auf. Der Umstand, dass Zelens´kyj auch zwei Angehörige der griechischen Minderheit, die in den Reihen des Freiwilligenverbandes „Azov“ in Mariupol kämpften, zu Wort kommen ließ, war für die Fraktionen, die Zelens´kyjs Rede ohnehin abgelehnt hatten, ein willkommener Vorwand, sich zu ereifern und ihre Ablehnung zusätzlich zu rechtfertigen.[8] Der Umstand, dass jener Freiwilligeneinheit eine rechtsextreme oder zumindest ultranationalistische Ausrichtung attestiert wird, führte aber auch in den Reihen von KINAL und ND zu Irritationen.

Meinungsumfragen ließen eine zwar mehrheitlich den russischen Angriff verurteilende, aber teilweise ambivalente Haltung erkennen. 60 % erklärten den russischen Angriff für inakzeptabel – in Deutschland waren es gemäß derselben Umfrage 82 %, in den Niederlanden gar 88 % gewesen. 34 % meinten jedoch, der Angriff sei zwar inakzeptabel, aber verständlich. Die Verantwortung für den Krieg sahen ein gutes Drittel bei Russland und Putin, rund 30 % beim Westen (USA, NATO, EU), ein weiteres Drittel wiederum bei allen. 63 % glaubten, die Entscheidung der Regierung, Waffen in die Ukraine zu schicken, könne für Griechenland gefährlich werden, 61 % optierten deshalb dafür, die Ukraine lediglich mit humanitärer Hilfe zu bedenken. Die Verhängung von Sanktionen wurden in einer weiteren Umfrage von 60 % gutgeheißen, von 30 % abgelehnt. Über Zelens´kyj äußerten sich 34,3 % positiv. Damit war er sogar der zweitbeliebteste unter den angeführten ausländischen Politikern, allerdings mit großem Abstand zum Liebling der Griechen, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron (65,1 %). Vladimir Putin landete mit 18,8 % auf dem drittletzten Platz, vor Xi Jinping und Erdogan. Zwei Jahre zuvor war er (damals nach Barak Obama und Macron) noch der drittbeliebteste ausländische Politiker gewesen. Im Juni 2021 hatten sogar 55 % erklärt, sie vertrauten Putin, der höchste Anteil in allen insgesamt 17 Ländern, die berücksichtigt wurden. SYRIZA-Anhänger teilten diese Ansicht zu fast zwei Dritteln, aber auch unter jenen der Nea Dimokratia waren es 52 %.[9]

In einem bis zum Beitritt Griechenlands zur EG 1981 zurückreichenden Zeithorizont kann die griechische Reaktion nur als historische Zäsur bezeichnet werden. In den 1980er Jahren gefiel sich der damalige Ministerpräsident Andreas Papandreou in der Rolle des Enfant terrible der EG, besonders eklatant in seiner Haltung zur Verhängung des Kriegsrechts in Polen 1981 oder zum Abschuss eines südkoreanischen Passagierflugzeugs 1983 durch die sowjetische Luftwaffe. In den 1990er Jahren spielte Griechenland während der Kriege im zerfallenen Jugoslawien eine Sonderrolle mit sehr viel Verständnis für Serbien. Nach der Annexion der Krim und der Entfachung des Krieges im Donbass durch Putin verhinderte Athen – neben anderen Mitgliedstaaten der EU – schärfere Sanktionen. Nun unterstützte eine griechische Regierung erstmals dezidiert die von EU und NATO eingenommene Haltung und die damit verbundenen Maßnahmen.

Auch das Gros der Medien und die orthodoxe Landeskirche,[10] die während der Kriege im ehemaligen Jugoslawien auf serbischer Seite standen, fraternisierten diesmal nicht mit dem Aggressor, sondern stellten sich auf die Seite von dessen Opfer. Dies gilt gleichfalls für die Mehrheit der Bevölkerung. Allerdings sympathisiert eine recht große Minderheit immer noch mit Moskau oder hält zu beiden Seiten gleichen Abstand. Dies musste etwa der Geiger und Dirigent Leonidas Kavakos erfahren, als das Staatliche Orchester Athen es ablehnte, an seinem Benefizkonzert für den Wiederaufbau der durch russisches Bombardement zerstörten Geburtsklinik in Mariupol teilzunehmen. Mit dem Titel des Konzerts „Für die Ukraine“ hätte die Veranstaltung einen politischen Charakter angenommen.[11] Hinter der mangelnden Bereitschaft nicht weniger zur Solidarität mit der Ukraine stehen aber, anders als etwa in Bulgarien, nicht direkt Sympathien für Russland, die in Griechenland seit ihrem Höhepunkt zu Beginn des 19. Jahrhunderts deutlich zurückgegangen sind, sondern vielmehr die in Teilen der Gesellschaft tief verwurzelten anti-westlichen, insbesondere anti-amerikanischen Ressentiments.


[1]     https://www.protothema.gr/politics/article/1215477/mitsotakis-i-epithesi-tis-rosias-stin-oukrania-amfisvitei-sunora-kai-to-dikaioma-ton-kraton-na-zoun-eleuthera/https://www.in.gr/2022/02/28/politics/panagiotopoulos-allileggyi-mas-stin-oukrania-einai-emprakti-tin-apostoli-oplon/

[2]     https://kinimaallagis.gr/dilosi-proedroy-pasok-kinimatos-allagis/

[3]     https://www.protothema.gr/politics/article/1216667/eisvoli-stin-oukrania-eurovouleutes-suriza-apeihan-apo-tin-psifoforia-gia-tin-oikonomiki-voitheia-tis-ee-pros-to-kievo/; https://www.tanea.gr/2022/03/01/politics/polemos-stin-oukrania-yper-ton-kyroseon-kata-tis-apostolis-polemikou-ylikou-taxthike-o-tsipras/; https://www.in.gr/2022/04/15/politics/katrougkalos-megalo-sfalma-tou-k-mitsotaki-anatropi-tou-dogmatos-tis-ellinikis-eksoterikis-politikis/

[4]     https://www.tanea.gr/2022/03/04/politics/antipoliteysi/koutsoumpas-gia-oukrania-anithiki-kai-epizimia-i-stasi-tis-kyvernisis-kai-i-emploki-ston-polemo/

[5]     https://www.ertnews.gr/eidiseis/ellada/politiki/g-varoyfakis-na-fygoyn-ta-rosika-strateymata-apo-tin-oykrania-amp-na-papsei-i-epektasi-toy-nato/; https://www.liberal.gr/news/alexanter-stamp-pros-baroufaki-stamatiste-tin-parapliroforisi-gia-tin-finlandia/435206

[6]     https://www.protothema.gr/politics/article/1217329/velopoulos/

[7]     https://www.in.gr/2022/03/28/politics/omilia-zelenski-sti-vouli-poia-kommata-symfonoun-kai-poia-diafonoun-tin-prosklisi-mitsotaki-ston-proedro-tis-oukranias/; https://www.in.gr/2022/04/07/politics/paraskinio/pou-itan-oi-vouleytes-tou-syriza-stin-omilia-zelenski/

[8]     https://www.in.gr/2022/04/07/politics/vouli/zelenski-eleytheria-thanatos-isxyroi-desmoi-elladas-kai-oukranias/; https://www.kathimerini.gr/politics/561798445/antidraseis-gia-tin-paroysia-meloys-toy-tagmatos-toy-azof-stin-omilia-zelenski/

[9]     https://www.in.gr/2022/03/04/politics/dimoskopisi-ti-lene-oi-polites-gia-tin-apostoli-ellinikon-oplon-ston-polemo-tis-oukranias/; https://www.in.gr/2022/03/25/greece/rosia-o-polemos-kai-ena-akoma-elliniko-paradokso/; Dioaneosis 04.2022, Τι πιστεύουν οι Έλληνες – Μέρος A [Was glauben die Griechen – Teil I] (https://www.dianeosis.org/wp-content/uploads/2022/04/tpe_2022_part-A.pdf).

[10]   https://www.ecclesia.gr/greek/holysynod/egyklioi.asp?id=3226&what_sub=egyklioi

[11]   https://www.protothema.gr/culture/article/1230638/leonidas-kavakos-giati-eipan-ohi-ston-korufaio-kallitehni-duo-kratikes-orhistres-gia-tin-sunaulia-stirixis-tis-oukranias/