Viele Menschen in Charkiw sprechen russisch – und leisten dennoch erbittert Widerstand gegen die Invasion. Der Grund dafür liegt auch in Moskaus Politik der vergangenen Jahre.
Charkiw ist die zweitgrößte Stadt der Ukraine, liegt im Osten des Landes, 40 Kilometer von der russischen Grenze entfernt. Die dauerhafte Besiedlung der Region Slobožanščyna, das Gebiet, in dem sich heute Charkiw befindet, erfolgte erst in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, als hier kleine Siedlungen (slobody) überwiegend ukrainischer Siedler entstanden. Mit der Gründung der Universität Charkiw 1805 wurde die Stadt zu einem wichtigen kulturellen Zentrum des Russischen Reiches. Diese Gründung hatte auch einen bedeutenden Einfluss auf die Entwicklung der ukrainischen Kultur und Literatur. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts hat sich Charkiw durch die Eröffnung von Bergwerken im Donbas in eine Industriestadt verwandelt, was Einwohner*innen aus anderen Teilen Russlands dazu veranlasste, in die Stadt zu ziehen. Von 1919 bis 1934 war Charkiw die Hauptstadt der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik, daher gilt sie als erste ukrainische Hauptstadt in der Sowjetunion. Die Stadt entwickelte sich zu einem bedeutenden Industriezentrum mit Maschinenbau, und Menschen aus anderen Sowjetrepubliken, einschließlich Russland, kamen, um hier zu arbeiten.
Die Zugehörigkeit der Stadt zum Russischen Reich und zur UdSSR trug zur Russifizierung der ukrainischen Bevölkerung bei. Dies ist auch darauf zurückzuführen, dass viele Ukrainer*innen, die zuvor auf dem Land gelebt hatten, mit Beginn der Industrialisierung Ende des 19. Jahrhunderts in die Stadt zogen und versuchten, sich an die russischsprachige Umgebung anzupassen. Nach der Volkszählung von 1926 war der Anteil von Russ*innen und Ukrainer*innen an der Bevölkerung von Charkiw ungefähr gleich (38,5 % Ukrainer*innen und 37,2 % Russ*innen). Schon damals war die Russifizierung der Bevölkerung, die sich als Ukrainer*innen bezeichnete, spürbar, denn nur 60,3 % aller Ukrainer*innen gaben Ukrainisch als ihre Muttersprache an, während 98,1 % der Russ*innen im Alltag Russisch verwendeten. Insgesamt nahm der Anteil der ukrainischen und russischen Bevölkerung in der Stadt bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion zu, während der Anteil der ethnischen Minderheiten (wie der jüdischen Bevölkerung) zurückging: Im Jahr 1989 deklarierten sich 50,4 % der Stadtbevölkerung als Ukrainer*innen und 43,6 % als Russ*innen. Innerhalb der Bevölkerung, die sich zur ukrainischen Nationalität bekannte, gab 1989 aber nur etwas mehr als die Hälfte (56,9 %) Ukrainisch als ihre Muttersprache an, während 99,5 % der Russ*innen Russisch als Muttersprache nannten. Laut der einzigen ukrainischen Volkszählung seit der Unabhängigkeit, im Jahr 2001, bezeichneten sich fast doppelt so viele Menschen in Charkiw als Ukrainer*innen wie als Russ*innen: 60,99 % gegenüber 34,25 %. Trotzdem bleibt der Trend bestehen, dass nur die Hälfte der Ukrainer*innen (50,4 %) Ukrainisch als ihre Muttersprache betrachtet. Daraus kann man schließen, dass Muttersprache und ethnische Identifikation in der Stadtbevölkerung nicht zusammenfallen.
Angesichts der großen russischsprachigen Bevölkerung betrachtete Russland Charkiw und die Region als ein Gebiet, das zu seinem Einflussgebiet gehören sollte. Am 1. März 2014 besetzten russische Söldner den Sitz der Regionalverwaltung in Charkiw und hissten eine russische Flagge. Ähnliche Besetzungen von Gebäuden der Verwaltung fanden auch in Donezk und Luhansk statt, wo russische Söldner anschließend die Gründung der sogenannten „Donezker“ und „Luhansker Volksrepublik“ proklamierten. Trotz zahlreicher Kämpfe zwischen russischen Söldnern und ukrainischen Aktivisten sowie terroristischer Angriffe auf zivile und infrastrukturelle Einrichtungen im Jahr 2014 kam es nicht zur Ausrufung einer „Charkiwer Volksrepublik“.
Im Allgemeinen wählten die Einwohner*innen von Charkiw vor 2014 bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen diejenigen Vertreter*innen und politischen Parteien, die auf eine Annäherung an Russland ausgerichtet waren. Die Situation änderte sich bei den Präsidentschaftswahlen 2014, als ein Proponent der Annäherung an die EU, Petro Porošenko, mit 36,69 % die meisten Stimmen erhielt; bei den Präsidentschaftswahlen 2019 erhielt Wolodymyr Zelensky im ersten Wahlgang die meisten Stimmen, nämlich 36,37 %, und dann 84,38 % im zweiten Wahlgang. Darüber hinaus ist das Gebiet Charkiw, insbesondere die gleichnamige Stadt, aufgrund seiner Nähe zu den besetzten Gebieten im Osten der Ukraine zu einer der Regionen geworden, in die seit 2014 viele Binnenvertriebene gezogen sind. Diese Tatsache hat auch den Widerstand der Lokalbevölkerung gegen die russischen Truppen im Jahr 2022 stark beeinflusst.
Im Zuge der aktuellen Invasion plante die russische Führung, Charkiw als eine der ersten ukrainischen Städte einzunehmen, ignorierte dabei aber die Tatsache, dass vor Ort die Unterstützung für prorussischen Kräfte seit dem Beginn der russischen Aggression im Jahr 2014 zurückgegangen ist, während schrittweise die wirtschaftliche und politische Annäherung an die EU-Länder populärer geworden ist. Die veränderte politische Stimmung in der Bevölkerung der Stadt und die Stärkung der ukrainischen Armee nach dem Beginn der russischen Aggression im Jahr 2014 trugen dazu bei, dass eine sofortige Eroberung von Charkiw nicht stattfand. In den letzten Tagen wurde ein Großteil von Charkiw durch massiven Beschuss und Bombardierungen zerstört. Bis zum 8. März evakuierten ukrainische Züge mehr als 600.000 Einwohner*innen von Charkiw.
Beitragsbild: Oleksandr Malyon, Будинок держпромисловості 1, CC BY-SA 4.0