Die Stadt Lviv in der Westukraine beherbergt nicht erst seit dem Angriff Putins auf die gesamte Ukraine Binnenflüchtlinge aus dem ganzen Land. Jetzt hat sich die Situation aber verschärft, was auch mit den Sprachen – Russisch und Ukrainisch – zu tun hat. Wie gelingt ein neues Miteinander in der Stadtgesellschaft?
Jeder Krieg hat nicht nur Gründe, sondern auch Folgen. Und der russisch-ukrainische Krieg, der seit 2014 mitten in Europa lodert und am 24. Februar 2022 zu einer offenen Aggression Russlands mutierte, ist leider keine Ausnahme. Wo Krieg ist, sind auch Menschen, die ihr Leben und das Leben ihrer Familien schützen wollen und vor den Schrecken fliehen. Russische Luftangriffe auf Kyiv, Charkiw, Mariupol, Mykolajiw hatten nicht nur zerstörte Häuser und Infrastruktur zur Folge, sondern zwangen Tausende von Ukrainern die Flucht zu ergreifen. Bilder von Menschenströmen in den überfüllten Bahnhöfen gehören seit dem 24. Februar zum Alltag.
Westukraine: zweite Heimat oder Zufluchtsort?
Westukrainische Städte (Lemberg, Iwano-Frankiwsk, Chernowitz, Ushhorod), die bislang zum Glück unversehrt blieben (mit wenigen Ausnahmen – Flughäfen und militärische Objekte wurden dennoch mit russischen Raketen beschossen), haben sich bereit erklärt, Menschen aus den von Russen attackierten Städten aufzunehmen. Allein in Lemberg sind zurzeit fast 200 000 Binnenflüchtlinge, die in 440 Bildungsstätten, Kulturzentren und 85 Kirchengemeinden untergebracht wurden.
Seit 2012 (Lemberg war damals Austragungsort der Fußball-Europameisterschaft) hat die Stadt den Slogan „Lviv – eine weltoffene Stadt“. Lemberg ist aber auch als die größte ukrainischsprachige Stadt des Landes bekannt. Die Stadt, in der man vor dem Krieg zudem Deutsch, Englisch, Polnisch, Russisch, Arabisch (!) und viele andere Sprachen auf den Straßen hörte, lebt jetzt in einer neuen „physischen“ und einer neuen „diskursiven“ Realität. Denn viele der Binnenflüchtlinge kommen aus Landesteilen mit deutlich höherem Anteil russischsprachiger Bevölkerung. Und so hört man in Hotels, Jugendherbergen, auf den Straßen nun überwiegend Russisch. Gleichzeitig treffen auch kulturelle Unterschiede aufeinander. In den wenigen Lokalen, die geöffnet haben, müssen die Kellner manchen Kunden erklären, warum die Speisekarte nur zehn oder zwölf Speisen anbietet. Oder in den zahlreichen Lemberger Kirchen, in denen weiterhin die Gottesdienste stattfinden, muss man erklären, dass die gemachten Bilder nicht unbedingt jetzt besprochen oder an die Freunde gesendet werden müssen. All das sorgt für Unzufriedenheit unter den Lembergern, die in ihren Facebook Accounts die Schwerter kreuzen. In diesen Diskussionen gibt es grundsätzlich zwei Narrative. Das erste lautet: „Flüchtlinge sind unsere Brüder, unsere Mitbürger, genauso patriotisch wie wir. Sie sind geschockt, gestresst, und die Sprache spielt ja keine Rolle. Und jene Lemberger, die versuchen, Binnenflüchtlinge zu ‚erziehen‘ sind Provokateure, Verräter, Freunde Russlands etc.“. Hingegen besagt das zweite Narrativ: „Flüchtlinge sind unsere Gäste, wir bieten ihnen Zuhause und Verpflegung, wir sind gerne bereit, ihnen zu helfen. Aber es ist kein ‚Wellness-Hotel‘ oder ‚Luxusrestaurant‘, und jede Hand wird in den Hilfszentren und Krankenhäusern gebraucht“.
Dazu kommt noch der sprachliche Aspekt. In den Social Media trifft man auf Thesen wie „Nach der russischen Sprache kommen russische Panzer“, „Die Russische Sprache ist die Sprache unseres Feindes“, „Ihr seid unsere Gäste und sollt unsere Sprache [Ukrainisch] respektieren und diese auch sprechen, egal, wie schwer es euch fällt“.
Ein Fazit
Die Wahrheit, liegt, wie so oft, in der Mitte. Plakative Aufrufe wie „Umarmt euch und liebt euch“ oder „Ab sofort sollt ihr Ukrainisch sprechen, sonst seid Ihr keine Ukrainer“ sind sinn- und nutzlos. Ein Kompromiss ist, wenn beide Seiten bereit dazu sind, Zugeständnisse zu machen und danach mehr oder weniger mit dem ausgehandelten Ergebnis zufrieden sind.
Ich wünsche es mir sehr, dass wir nach diesem grausamen Krieg nicht nur stärker, sondern auch kompromissfähiger, toleranter und verständnisvoller geworden sind. Und zwar alle.
Der Autor war 2018 Gastwissenschaftler am Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung. Als Stipendiat der Konrad-Adenauer-Stiftung zum Thema „Die militärische Aggression Russlands in der Ukraine im deutschen Mediendiskurs“ wertete er deutsche, ukrainische und amerikanische Karikaturen aus. Ein Interview dazu finden Sie auf unserem regulären Institutsblog.
Beitragsbild: невідомо, Евакуація людей із Сум 2022 03 08, CC BY 4.0