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#VERBRANNTE DÖRFER: Die Gewalt kehrt zurück – Das Dorf Peremoha („Sieg“)

Peremoha gehört zu den „verbrannten Dörfern“ der Ukraine. Nach Holodomor und NS-Terror kehrt nun die Gewalt zurück.

Ukrainehistoriker und -historikerinnen haben sich immer gewünscht, dass die Ukraine mehr Aufmerksamkeit erhält, dass die Medien ihre Landkarte zeigen und ihre Städte und Regionen, ihre Flüsse und Landschaften Eingang in unser Bewusstsein finden. Das geschieht jetzt, aber es sind Karten der brutalen Zerstörung und Gewalt durch die russische Armee. So lernen wir jetzt Charkiw, Mariupol, Kiew usw. als Städte im Krieg kennen, als Städte vermeintlich ohne Geschichte und Kultur, als bloße Territorien des militärischen Kampfes und der Verwüstung, der Verteidigung oder der Eroberung. Die großen Städte der Ukraine sind aber Perlen der Geschichte und Kultur – Kiew, Charkiw, Odessa, Lemberg/Lwiw und viele andere, die die Vielgestaltigkeit dieses Landes und Europas zeigen.

Hier möchte ich dagegen ein kleines Dorf vorstellen, das den Namen Peremoha („Sieg“) trägt, etwa 50 Kilometer östlich von Kiew liegt und vor dem Zweiten Weltkrieg einmal Jadliwka hieß. Auch dieses Dorf hat seine Geschichte und Kultur. Am Dienstag, den 8. März kam die Meldung, dass die orthodoxe Kirche und das Pfarrhaus des Dorfes zerstört wurden, es gab keine Nachrichten darüber, ob der Geistliche und seine Familie die Zerstörung überlebt haben. Am Samstag, den 12. März folgte die Information des ukrainischen Verteidigungsministeriums, dass die russische Armee am Vortag sechs Frauen und ein Kind bei dem Versuch erschossen habe, das Dorf Richtung Hostroluchchya zu verlassen und sich in Sicherheit zu bringen. Die Zahl der Verletzten ist noch unbekannt. Weitere Personen wurden gezwungen, in das Dorf zurückzukehren.

Schicksal vieler Ortschaften

Es ergibt Sinn, diese Gewalttat in einen größeren historischen Kontext zu stellen, um verständlicher zu machen, was passiert ist. Peremoha gehört zu den „verbrannten Dörfern“ der Ukraine und teilt sein Schicksal mit einer großen Zahl weiterer Ortschaften in der Region – und darüber hinaus. Es gibt über 300 solcher „verbrannter Dörfer“ in der Ukraine. Was meint nun dieser Begriff?

Jadliwka war in der frühen Sowjetunion ein recht wohlhabendes ukrainischsprachiges Dorf mit etwa 5000 Einwohnern. Genaueres ist unbekannt, da es weder eine Dorfchronik noch alte Fotos gibt, sondern nur das, was im Dorfmuseum in der Schule erhalten ist und im Dorf weitererzählt wurde. In den 2000er Jahren fing man an, darüber zu sprechen, dass im Holodomor bis zu 800 Einwohner umgekommen seien, dem großen Hunger der frühen 1930er Jahre, der von Stalin und seinen Schergen bewusst herbeigeführt worden war. Die Wehrmachtssoldaten wurden dann wohl zunächst von einem Teil der Dorfbevölkerung freundlich begrüßt, zumal sie an einen Teil der Dorfbevölkerung Land und Häuser zurückgaben, die ihr Stalin in der Zwangskollektivierung zehn Jahre zuvor genommen hatte. Das änderte sich aber schnell, als die Blitzkriegsstrategie Hitlers im Herbst 1941 scheiterte. Im Januar 1942 deportierten die Deutschen etwa 50 junge Leute zur Zwangsarbeit ins Deutsche Reich, im Dezember des selben Jahres brachten Einheiten einer SS-Einsatzgruppe 29 Dorfbewohner als Vergeltung für angebliche Kollaboration mit sowjetischen Partisanen um und zwangen ihre Verwandten mit Kindern, sich die Ermordung anzusehen; im späten August 1943 schließlich zerstörte die Wehrmacht auf ihrem Rückzug in vier Tagen das gesamte Dorf bis auf den Grund – mit Ausnahme der Kirche, die so als einziges Gebäude im Dorf den Krieg überlebte, da sie von der Wehrmacht als Kommandozentrale verwendet worden war. Die ehemals orthodoxe Kirche war vor dem Krieg von den Sowjets als Lagerraum und zwischen 1941 und 1943 wieder als Gotteshaus genutzt worden. Ein größerer Teil der Dorfbevölkerung wurde erhängt, erschossen oder in seinen Häusern verbrannt, die überlebende Bevölkerung, etwa 1300 bis 1500 Menschen, wurde nach Deutschland zur Zwangsarbeit verschickt. Das war das Ende von Jadliwka. Das Dorf wurde nach 1945 als Peremoha neu aufgebaut, zum Teil von den ehemaligen Zwangsarbeitern, die in das nicht wieder zu erkennende Dorf zurückgekehrt waren.

Die Dorfbewohner entwickelten in den Jahrzehnten nach 1945 unterschiedliche Formen der Erinnerung an die deutsche Kriegsgewalt, wobei offizielle sowjetische Formen dominierten: So wurde ein Obelisk im Dorfpark errichtet und eine Dauerausstellung im Museum in der Dorfschule (mit einem erhaltenen großen Stalinportrait) eröffnet; die Siegesfeiern am 9. Mai fanden breite Resonanz. Aber vor allem die Frauen des Dorfes trafen sich vor und nach 1991 auch regelmäßig im August, um der Zerstörung des Dorfes, der Massengewalt gegenüber Familien und Verwandten und ihrer Zeit als Zwangsarbeiterinnen in Nazi-Deutschland zu gedenken. Der ehemalige Kolchosvorsitzende, Bürgermeister und Geschichtslehrer des Dorfes, Nikolas Krasnožon, der als Absolvent der Kiewer Taras-Schewtschenko-Universität einer der wenigen Russischsprechenden im Dorf war, rettete in den 1970er Jahren eine Liste mit namensbezogenen Informationen über 1326 Dorfbewohner, die während des Krieges in Deutschland waren, die Orte ihrer Deportation und die Art ihrer Zwangsarbeit vor dem Feuer.

Nach Wiederaufbau erneut in Trümmern

Nach dem Kollaps der Sowjetunion und der Unabhängigkeit der Ukraine wurde die orthodoxe Kirche im Dorf wieder aufgebaut und als Gotteshaus genutzt, was zunächst auf ambivalente Reaktionen stieß. Der ökonomische Absturz der 1990er Jahre ließ die sowjetischen Nachkriegsjahrzehnte in keinem schlechten Lichte dastehen. In den 1990er Jahren entstanden auch lockere Kontakte zwischen der Martin-Niemöller-Stiftung, einer Friedensorganisation, und dem Dorf, die sich in den 2000er Jahren deutlich intensivierten. Der im Krieg zerstörte Kirchturm wurde wieder aufgebaut und die Kirche mit den Jahren zu einem sozialen und kulturellen Mittelpunkt des Ortes.

In diesen Jahren wurde ich angefragt, ob ich als Historiker die Erinnerungsarbeit der Stiftung im Dorf begleiten könnte. Viele ehemalige Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter wünschten sich, an den Ort ihrer Zwangsarbeit in Deutschland zurückzukehren, um dieser Zeit in ihrem Leben einen angemessenen Platz zu geben. Die Stiftung nahm das Anliegen auf und entfaltete für viele Jahre einen aktiven Austausch mit Peremoha, zu dem auch Jugendbegegnungen und Freizeitaktivitäten gehörten. In der Dorfschule wurde ein neuer Kindergarten eingerichtet. Als ich 2015 zuletzt im Dorf war, lebten die meisten ehemaligen Zwangsarbeitenden nicht mehr, und wir diskutierten über den Euromajdan, die Besetzung und Annexion der Krim durch Russland und die kriegerische Gewalt in Teilen der Ostukraine. Im Dorf begannen viele Kontakte nach Russland abzubrechen, da man sich politisch auseinanderlebte und Erfahrungen nicht mehr geteilt und vermittelt werden konnten.

Jetzt liegt das orthodoxe Kirchenhaus, das den Zweiten Weltkrieg überlebt hatte und seit den 1990er Jahren wieder aufgeblüht war, in Schutt und Asche. Die Gemeinde hatte sich erst kürzlich aus dem Moskauer Patriarchat gelöst und der orthodoxen Kirche des Kiewer Patriarchates unterstellt. Die letzten Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter leben noch in einem Seniorenheim, Kriegsgewalt und -traumata kehren nach Peremoha zurück, auch auf Dorfebene sind die Bande mit Russland endgültig zerrissen. Wie viele Peremohas wird es dieses Mal in der Ukraine geben?


Beitragsbild: Іван Биков, Перемога. Церква Різдва Богородиці. 1892 рік., beschnitten, CC BY-SA 3.0

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