Die kosovarische Gesellschaft fühlt sich durch die Bilder aus der Ukraine und durch die russische Aggression an die eigenen Erfahrungen von 1998/99 erinnert. Strategisch hofft die Politik auf eine raschere Integration in die Nato und weniger westliche Nachsicht mit Serbien.

Zwischen dem heutigen russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine und dem Kosovokrieg von 1998/99 bestehen viele Unterschiede. Damals, also im abgesehen von der Ukraine jüngsten Krieg in Europa, kam es zu einer internationalen Kriegsphase erst in Folge eines kleinräumigen Guerillakriegs und angesichts der massiven serbischen Repressionsmaßnahmen. Und damals hat in der zweiten Phase die Nato militärisch eingegriffen. Beabsichtigt war eine „humanitäre Intervention“, um die in Gang befindliche Vertreibung der albanischen Mehrheitsbevölkerung des Kosovo zu verhindern und rückgängig zu machen. In der Ukraine dagegen findet nach der russischen Invasion in fremdes Staatsgebiet ein großflächiger Krieg zweier staatlicher Armeen statt; ein wahrscheinlicher Partisanenkrieg gegen die russischen Besatzer wird erst noch folgen. Die Intervention von dritter Seite ist dort mehr als unwahrscheinlich, und es geht dem Angreifer aktuell offenkundig als Erstes um die Eroberung der Städte.

Im Kosovokrieg hingegen war lange Zeit die albanische Landbevölkerung das Hauptziel der serbischen Angriffe. Erst 1999 kamen auch die Städte an die Reihe. Auf dem Höhepunkt waren gut zwei Drittel der Kosovarinnen und Kosovaren ins Ausland oder intern aus ihren Wohnungen und Häusern vertrieben. Unter diesen Vielen war auch eine Sechzehnjährige aus Mitrovica: Ein serbischer Soldat steckte ihr die Mündung seiner AK 47 in den Mund und zwang sie und ihre Familie dazu, sich in einen militärisch bewachten Flüchtlingstreck einzureihen, der vier Tage und vier Nächte zu marschieren hatte. Etwa 20 Jahre später erzählte das einstige Mädchen der Sunday Times von diesem Geschehen. [1] Das Londoner Weltblatt interessierte sich nicht von ungefähr für die Geschichte, denn dieses einst vertriebene Mädchen, Vjosa Osmani, war inzwischen Parlamentspräsidentin von Kosovo geworden und bekleidete  im Moment des Interviews auch schon kommissarisch das Amt der Staatspräsidentin. Osmani, seit April 2021 auch regulär das Staatsoberhaupt ihres Landes, hat vor wenigen Tagen (28.2.2022) noch einmal auf ihre eigene Fluchterfahrung verwiesen. Da war sie für ein Exklusivgespräch über die Ukrainekrise beim türkischen Auslandssender TRT International zu Gast. [2]

Vorangegangen war ihr lang geplanter Antrittsbesuch bei ihrem türkischen Amtskollegen Recep Tayyib Erdoğan. Mit ihm hatte sie nicht nur die bilateralen Beziehungen und die seit Jahren von Kosovos Regierung vorgebrachten Wünsche nach der Integration des Landes in die euroatlantischen Strukturen besprochen, sondern mit Blick auf den russischen Angriff auf die Ukraine ganz konkret die sofortige Aufnahme Kosovos in die Nato zum obersten politischen Ziel erklärt. Neu daran ist weniger die Priorisierung, als vielmehr die verbesserte Aussicht auf Erfolg. Denn während Kosovo in der Epoche vor dem russischen Angriff mit ähnlichen Wünschen im Nato-Hauptquartier in Brüssel auf höchstens halbwohlwollende Taubheit gestoßen sein dürfte, hat Osmani mit der Türkei jetzt umgehend einen ersten offenen Fürsprecher des Beitritts zur Nato gefunden. Nordmazedonien und Kroatien haben sich dem binnen Kurzem angeschlossen.[3] Wenige Tage nach dem Türkeibesuch von Osmani hat auch Premierminister Albin Kurti gegenüber dem Westen die Forderung nach der Mitgliedschaft Kosovos in Nato und EU erhoben; beide Organisationen sollten sich bemühen, mehr als bisher gegen den russischen Einfluss auf dem Balkan vorzugehen. [4]

Insgesamt ist das strategische kosovarische „Kriegsziel“ (wenn man das Wort hier im übertragenen Sinn verwenden darf) nicht von der Hand zu weisen. Es besteht darin, die eigenen Sicherheitsinteressen offensiver anzugehen und von Serbiens strategischer Schwächung durch dessen Naheverhältnis zu Russland zu profitieren. Unrealistisch ist das Ziel wohl nicht, denn wer in westlichen Staatskanzleien sollte so naiv sein, nach den russischen Erfahrungen die Unterminierung und Infragestellung der staatlichen Existenz eines Nachbarlandes weiterhin als ein Problem unter vielen und vielleicht gar als bloße Rhetorik abzutun? Das sonst diplomatisch durchaus gewandte Serbien jedenfalls tat angesichts der neuen Haltung der Türkei wenig dafür, um zu kaschieren, wie gern es den Staat Kosovo von der Karte tilgen würde: Staatspräsident Aleksandar Vučić erklärte am 2. März gegenüber der serbischen Öffentlichkeit, das Belgrader Außenamt habe eine Protestnote an Ankara vorbereitet; jedes wertende Wort zu viel könne zwar gefährlich sein, aber umso deutlicher waren seine nachfolgenden Andeutungen, die Nato-Mitgliedschaft Kosovos wäre ein Angriff auf Serbien. [5] Den Ernst solcher Rhetorik kennt der Westen inzwischen allzu gut.


[1] https://www.thetimes.co.uk/article/shaped-by-kosovos-war-vjosa-osmani-wont-blink-in-her-battle-to-cut-out-the-rot-k9rcdkvq9

[2] https://www.youtube.com/watch?v=L7PbAEm8QSE

[3] https://kossev.info/s-makedonija-i-hrvatska-podrzavaju-clanstvo-kosova-u-nato/

[4] https://www.koha.net/arberi/313563/kurti-ne-skynews-kerkon-pranimin-e-kosoves-ne-be-dhe-nato/

[5] https://www.rts.rs/page/stories/sr/story/9/politika/4724291/vucic-protestna-nota-turska-.html // https://www.youtube.com/watch?v=LyAeu5N0Ctc


Beitragsbild: Office of USAID Administrator, Samantha Power met with Vjosa Osmani at USAID – 2021, als gemeinfrei gekennzeichnet, Details auf Wikimedia Commons