Unsere Autorin forscht seit Jahren unter anderem zu sogenannten russischen Läden in Deutschland. Seit Februar 2022 beobachtet sie, wie der Angriffskrieg gegen die Ukraine auch hier deutliche Folgen zeigt.
Seit Juli 2021 besuche ich im Rahmen meiner empirischen Forschung über Migrationsprozesse aus der ehemaligen Sowjetunion in Deutschland intensiv sogenannte russische Läden. Diese bieten nicht nur als russisch bezeichnete Produkte an, sondern Waren aus allen postsozialistischen Ländern, von Zentralasien bis zum Kaukasus und aus dem weiteren Osteuropa. Anfänglich ging es mir darum, neben den formell organisierten auch die informellen postmigrantischen Netzwerke genauer unter die Lupe zu nehmen. Diese „russischen Läden“ mit ihrem lebendigen und vielfältigen Alltag schienen mir ein passender Ort für meine ethnographische Forschung.
Ich besuchte regelmäßig zwei Geschäfte in Osnabrück, sprach mit Verkäufer*innen und Kund*innen oder verbrachte einfach Zeit im Laden und wurde somit Zeugin diverser Situationen, die meine Analyse bereicherten und mir immer wieder neue Impulse zur Recherche gaben. Mit der Zeit stellte ich fest, dass diese Läden weit mehr sind als bloß Orte zur Deckung des täglichen Bedarfs, sondern vielfältige pragmatische sowie emotionelle Bindungen produzieren, die das transnationale und translokale Leben der Eingewanderten mit Bedeutung füllen. Sie dienen als eine Art „Überschreitungsort“ für die Vernetzung.1 Hier werden sowohl auf der Gefühls- als auch auf der Wissensebene Vertrautheit erzeugt.
Orte der Vertrautheit
Das Vertrautheitsgefühl steigt jedes Mal auch in mir hoch, sobald ich diese Läden betrete. Es riecht in „russischen Läden“ anders als in konventionellen Supermärkten in Deutschland. Und es riecht in jedem dieser Läden gleich, egal wo ich diesen auch besuche (ob in Osnabrück, München oder neulich in Regensburg): nach geräuchertem Fisch, eingelegten Gurken und Obst. Neben dem Olfaktorischen wird das Vertrautheitsgefühl durch eine visuelle Wahrnehmung gestärkt. Diese Läden sind voller Produkte und Gegenstände (ob Lebensmittel, Haushaltswaren, Hygieneartikel oder Pharmazeutika), die die Besucher raumzeitlich in diverse (post-)sozialistische Regionen und Länder katapultieren. Manche Produkte erinnern mich an meine Kindheit im damals sozialistischen Georgien.
Über die Arten von Vertrauenskonditionen, die ich als „multiple Vertrautheit“ bezeichne, habe ich anderswo schon geschrieben.2 In diesem Blogbeitrag möchte ich dagegen über Vertrauenserosion bzw. Misstrauen3 und die prozessuale Abwertung an Orten berichten, die relevante Lebensmittelpunkte für Migrant*innen darstellen. Anders ausgedrückt: Dieser Beitrag handelt davon, wie der Krieg Russlands gegen die Ukraine nicht nur zwischenmenschliche Beziehungen verändert, sondern auch Orte weit weg von den dramatischen Ereignissen; in diesem Fall die „russischen Läden“ in Deutschland.
Der 24. Februar 2022 wurde für zahlreiche Gesellschaften auf unterschiedlichen Kontinenten zu einem tiefen Einschnitt und gleichzeitig einer Wende. Es kam zu globalen Veränderungen auf vielen Ebenen: politisch, demographisch, wirtschaftlich und sozial. Zahlreiche Länder, ebenso die Europäische Union, haben Wirtschafts- und Handelssanktionen gegen Russland verhängt. Die alltäglichen Folgen solcher Sanktionen kann man sehr gut an dem Prozess des (Un-)Sichtbarmachens bestimmter Waren in „russischen Läden“ ablesen.
„Russische Läden“ als möglichst neutrale Räume
Im Laufe des Jahres 2021 sichtete ich diverse russischsprachige Zeitungen und Zeitschriften in „russischen Läden“. Die Namen dieser Publikationen habe ich leider nicht in meine Tagebücher aufgenommen, da sie damals nicht unbedingt so bedeutend für mich waren, wie sie es nach dem Beginn des umfassenden russischen Angriffs geworden sind. Diese Zeitungen und Zeitschriften, ebenso Waren, die sowjetische Nostalgie produzierten oder nationale bzw. sowjetische Militärsymbolik zeigten, begannen peu à peu zu verschwinden. Das betraf etwa Grußkarten, die zum 9. Mai an den „Großen Vaterländischen Krieg“ erinnern sollten, Teepackungen mit Abbildungen von Marx und Lenin oder Kappen mit aufgenähten Schriften in Farben der russischen Flagge. Diese waren 2022 und 2023 in Osnabrück nicht mehr zu finden. Kurz: Alles, was an die russische Kriegspropaganda erinnern könnte oder mit sowjetischer Militärsymbolik des Zweiten Weltkriegs aufgeladen war, war weg. Aktuell kann man in „russischen Läden“ fast nur noch Kreuzworträtselhefte, unpolitische Zeitungen wie Aibolit (mit einem Fokus auf Gesundheit und Lifestyle) oder alte Bücher kaufen. Die Ecke mit den Pressepublikationen ist buchstäblich leergefegt.
Gleichzeitig ist an der Stelle anzumerken, dass „russische Läden“ zumindest visuell möglichst neutrale Räume bleiben. Es werden weder die russische Kriegspropaganda noch Solidaritätsbekundungen für die Ukraine zur Schau gestellt. Es sind keine Fähnchen, Bänder oder Buttons mit ukrainischer Symbolik zu finden. (Diese sind zum Beispiel in vielen Läden oder auf Verkaufsständen in Tbilissi nicht zu übersehen.)
Die Strategien der Relokation und Überschreibung bei den Waren
Veränderungen sieht man allerdings auch bei Waren und Produkten, die nicht aus den Regalen verschwunden sind. Als ich am 27. März 2024 einen „Mix Markt“ in Regensburg aufsuchte, erregte das Getränkeregal meine Aufmerksamkeit. Es waren die unglaublich vielfältigen Flaschen und Tongefäße, die mich stutzig machten. Sie waren zum Teil auf Georgisch, überwiegend aber auf Russisch beschriftet. Ich habe etwa 20 Flaschen und Gefäßsorten gezählt, gefüllt mit bekannten Rot- und Weißweinen. Und dann sah ich gleich nebenan Sektflaschen, die den Namen „Жемчужина Крыма“ (Perle der Krim) trugen. Während mich bei den georgischen Weinen die Größe der Auswahl überraschte, war ich spürbar misstrauisch wegen der „Perle“. War es ein Getränk von der Krim? Und falls es in der Ukraine produziert worden war, wäre dann der Aufschrift wirklich Russisch? Ich tauschte mich mit einem Kollegen darüber telefonisch aus. Auch er wurde misstrauisch. Es dürfte eigentlich nicht sein, dass ein Produkt, das auf der Krim produziert worden war, nach Deutschland gelangt ist. Ich beschloss, mir die Flasche genauer anzusehen.
Ich stellte fest, dass der Sekt in der Republik Moldau hergestellt worden war. Während auf dem vorderen Etikett der Name auf Russisch stand, war die Produktbeschreibung auf der hinteren Seite auf Deutsch. Nach dieser „Entdeckung“ habe ich damit begonnen, verschiedene Waren nach dem Ort der Herstellung zu prüfen. Das Resultat war durchaus spannend: Die georgischen Weine zum Beispiel stammen gemäß den Etiketten zwar aus Tbilissi, die Flaschen sind aber überwiegend auf Russisch beschriftet, was ungewöhnlich ist und misstrauisch macht, ob diese Weine tatsächlich in Georgien produziert worden sind. Sowohl meine Gesprächspartner*innen in Osnabrück als auch meine Bekannten in Tbilissi fanden das ebenfalls merkwürdig. Normalerweise sind georgisch-englische Etiketten auf Flaschen aufgeklebt, die für den internationalen Markt gedacht sind. Manche meiner Bekannten kannten bestimmte Flaschendesigns nicht und vermuteten, dass diese, falls doch in Georgien produziert, eigentlich speziell für den russischen Markt bestimmt seien. Und alle waren sich einig, dass diese Weine ungenießbar seien und ich dem Inhalt nicht trauen könne. Der Cognac aus Armenien war in Erewan produziert. Allerdings, auch hier waren die Beschriftungen auf den hinteren Etiketten auf Russisch bzw. Deutsch.
„Russische“ Medikamente aus Berlin
Ich ging weiter zu dem Regal, in dem pharmazeutische Produkte angeboten wurden. Mein Interesse für diese Waren basiert auf meinen eigenen Forschungserfahrungen. Während meiner Arbeit in Osnabrück (von 2021 bis 2023) habe ich erfahren, dass ältere russischsprachige Personen (unter anderem auch die Deutschen aus der ehemaligen Sowjetunion) oft russische Medikamente bestellen und in solchen Läden einkaufen, weil sie die Heilmittel schon lange kennen und diesen Produkten vertrauen. Eine Verkäuferin eines „russischen Ladens“ in Schinkel, einem Stadtteil von Osnabrück, nahm von Kund*innen derartige Bestellungen auf und kümmerte sich persönlich darum, dass die Medikamente zollgerecht und gesetzeskonform ihre Kund*innen erreichten. Nach dem kriegerischen Überfall Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 waren diese Transaktionen nicht mehr möglich.
Die Pharmaprodukte boten ebenfalls eine geographisch interessante Herstellungsgeschichte. So wies das Medikament „Но–шпа“ (No-špa), das unter russischsprachigen Migrant*innen aus der ehemaligen Sowjetunion sehr beliebt ist, Berlin als Herstellungsort auf. Der Name war auf Russisch gedruckt (das deutsche Pendant dieses Medikaments gegen Bauch- und Darmbeschwerden nennt sich Buskopan). Die in Russland gängige Variante wird in Ungarn produziert und von diversen Institutionen im ehemaligen sowjetischen Raum klinisch geprüft (etwa in Moskau, Erewan, Minsk, Astana und Bischkek).4
Neutrale Handelsräume statt Polarisierung?
Ich habe mich oft gefragt, was aus den Wünschen älterer Menschen, vertraute Medikamente zu erhalten, nach dem 24. Februar 2022 geworden ist. Fanden sie möglicherweise eine alternative Strategie, wie sie sich mit diesen Medikamenten versorgen können? Diese Frage konnte ich zumindest teilweise nach dem Besuch des Ladens in Regensburg beantworten. Die Etiketten offenbaren Geschichten der „Re-Lokation“ und „Überschreibung“ in Bezug auf die Produktion dieser Dinge aus dem postsozialistischen Raum. Diese Gegenstände, die an ein vertrautes Leben vor der Migration erinnern, bilden neben den Erinnerungen der Migrant*innen eine Basis dafür, das postmigrantische Leben fernab der Heimat vertraut(er) zu gestalten.5 Gleichzeitig offenbaren diese Waren die Spuren eines Krieges (in diesem Fall in der Ukraine), die offensichtlich die Kundschaft weiter polarisieren könnten.
Eine mögliche Lösung, diese Polarisierung in den Läden zu vermeiden, besteht darin, diese Geschäfte als möglichst „neutrale Handelsräume“ zu belassen. Politisch unpassende Waren verschwinden oder werden durch Relokations- und Überschreibungsstrategien passend bzw. akzeptabel für alle Einkäufer*innen (und für die staatlichen Behörden, die möglichen Sanktionsverstößen nachgehen) gemacht. Es könnte natürlich sein, dass Produkte wie „Die Perle der Krim“ oder das Medikament „Но–шпа“ auch schon vor dem Anfang des Krieges eigentlich in Moldova bzw. in Berlin produziert worden sind. Allerdings rückt dieser Krieg solche Produkte in ein neues, politisch sensibles und Misstrauen erregendes Licht. Deren Anwesenheit deutet – zusammen mit den „verschwundenen“ Produkten – auf einen bedeutsamen Vertrauensverlust hin.
Beitragsbild: A.Savin, Dnmixmarkt, (beschnitten), CC BY-SA 3.0
- Aivazishvili-Gehne, Nino: „Multiple Vertrautheit.“ Plädoyer für die Einführung eines neuen Begriffs: „Russlanddeutsche“ in Deutschland. In: Paideuma. Zeitschrift für Kulturanthropologische Forschung, 68 (2022), 149–165. [↩]
- Ebd. [↩]
- Florian Mühlfried: Misstrauen. Vom Wert eines Unwertes. Ditzingen: Reclam, 2019. [↩]
- Но-шпа — инструкция по применению, дозы, побочные действия, описание препарата: таблетки, покрытые пленочной оболочкой,таблетки,раствор для внутривенного и внутримышечного введения, 20 мг/мл, 40 мг, 40 мг (rlsnet.ru); zuletzt abgerufen am 2.4.2024. [↩]
- Aivazishvili-Gehne, Nino: Auf der Suche nach dem guten Leben. Postsowjetische Gemeinschaften in Osnabrück. Bielefeld [im Erscheinen 2024]. [↩]
Kommentare von Nino Aivazishvili-Gehne