Vor 20 Jahren erhoben sich große Teile der Zivilgesellschaft der Ukraine zu einer Orangenen Revolution. Ein nachhaltiger Erfolg war ihr zunächst nicht beschieden. Doch die Ereignisse bilden einen Grundpfeiler des ukrainischen Freiheitskampfs heute.
Im Winter 2004 erhob sich in der Ukraine eine zivile und friedliche Protestbewegung. Die Orangene Revolution wollte das Land auf den Weg der Demokratisierung setzen und erzwang dafür die Wiederholung einer Stichwahl für das Präsidentenamt am 26. Dezember 2004. Der Erfolg währte zunächst nur kurz, bald wurde die Revolution wieder zurückgedrängt. Dennoch gelang den Protestierenden damals etwas, was weder in Russland noch in Belarus bisher überhaupt geschehen ist, nämlich ein Wechsel im Präsidentenamt, der einen generellen politischen Richtungswechsel intendierte.
Wie konnte es dazu kommen – und wie fällt die historische Bewertung der Revolution heute aus?
Der Auslöser: Die Präsidentschaftswahlen 2004
Unmittelbarer Auslöser für den Massenprotest auf den Straßen vor allem Kyjiws ist der Wahlbetrug bei den Präsidentschaftswahlen 2004. Der ins Autoritäre abgleitende Staatspräsident Leonid Kutschma (1994–2004) hatte versucht, seinen Wunschkandidaten Viktor Janukowytsch als Nachfolger ins Amt zu bringen. Dies gelang ihm im ersten Wahlgang nicht, so kam es im November 2004 zur Stichwahl zwischen Janukowytsch und dem westlich orientierten, „orangenen“ Kandidaten Viktor Juschtschenko, dessen Kampagnenfarbe Orange war. Die Zentrale Wahlkommission erklärte Janukowytsch schließlich zum Sieger und die Wahl für gültig, obwohl es offensichtliche Fälschungen gegeben hatte.
In Reaktion darauf formierten sich zivilgesellschaftliche Kräfte in der Ukraine: Hunderttausende fanden sich zum Protest auf den Straßen vor allem in Kyjiw, ein. Ihr Ziel war es, Juschtschenko zum Wahlsieg zu verhelfen. Von ihm versprachen sie sich, dass er die Korruption im Land und die Misswirtschaft beenden würde. Ebenso wollten sie ein Ende des autoritären Führungsstils des regierenden Präsidenten Kutschma, der geprägt war von politischem Einfluss von Oligarchen, Korruption und Vetternwirtschaft. Deutlichstes Symptom der mafiös anmutenden Regierungsstruktur war die offenkundige Verwicklung Kutschmas in die Ermordung des kritischen Journalisten Georgi Gongadse im Jahr 2000. Juschtschenko seinerseits hatte im Wahlkampf versprochen, gegen alle diese Missstände vorzugehen.
Der Protest gegen den augenscheinlichen Wahlbetrug sollte friedlich ablaufen, durch Blockaden diverser Regierungsgebäude in Kyjiw. Und es blieb auch eine friedliche Massenbewegung, die sich von unten her aufgebaut hatte.
Unterstützung kam durch das Oberste Gericht der Ukraine. Es stellte sich auf die Seite der Protestierenden und setzte eine neue Stichwahl für Dezember 2004 an. Juschtschenko gewann diese knapp, und im Januar 2005 wurde er zum Präsidenten inauguriert. Damit hatten die Protestierenden auf demokratischem Weg ihr Ziel erreicht, nämlich einen Regierungswechsel, der die Ukraine auf den Weg der Demokratisierung setzen sollte.
Die Vorgeschichte: Der Kyjiwer Schaukelkurs zwischen West und Ost
Unter den ersten Staatspräsidenten der Ukraine, Leonid Krawtschuk und Kutschma, war das oberste Ziel, die 1991 erreichte staatliche Unabhängigkeit des Landes zu sichern. Das hieß, dass man zunächst und vor allem mit Russland eine „friedliche Ko-Existenz“ herstellen musste. Moskau erkannte die Unabhängigkeit der Ukraine und die Unverletzlichkeit der Grenzen zwar an. Allerdings waren laute Stimmen in der russischen Politik vernehmbar, die Ansprüche auf die von Russischsprachigen bewohnte Ostukraine und auf die Krim – insbesondere Sewastopol, dem Hauptstützpunkt der Schwarzmeerflotte – stellten. Auch der Streit um die Atomwaffen in der Ukraine und deren schließlicher Verzicht darauf gehört in diesen Disput. Gleichzeitig blieben die Verbindungen der Ukraine zu Russland und zu den anderen ehemaligen sowjetischen Staaten über die 1991 gegründete GUS, die Gemeinschaft unabhängiger Staaten, bestehen.
Vor diesem Hintergrund vollzogen die beiden ersten ukrainischen Präsidenten Krawtschuk und Kutschma außenpolitisch keine klare Wendung – weder nach Westen noch nach Osten. Vielmehr lavierte man zwischen den beiden Seiten; es war eine Schaukelpolitik, die als „Multivektoralität“ bezeichnet wurde.
Westlichen Organisationen näherte sich Kyiw nur vorsichtig an. Die EU ihrerseits verhielt sich den Staaten der zerfallenen Sowjetunion gegenüber ebenfalls zurückhaltend. Man bot ihnen (mit Ausnahme der baltischen Staaten) keine absehbare Beitrittsperspektive, anders als den ostmitteleuropäischen Staaten, sondern entwickelte „Partnerschafts- und Kooperationsabkommen“. Die Ukraine unterzeichnete 1994 ein solches. Dadurch sollten der wirtschaftliche Fortschritt und die politische Stabilität des Landes gefördert werden. 1999 entwickelte Brüssel mit Kyjiw eine eigene Strategie, in deren Folge immerhin der Handel zwischen der Ukraine und den EU-Staaten ausgeweitet wurde.
Es gab auch Abkommen zwischen der NATO und Kyjiw: 1994 unterzeichnete die ukrainische Regierung das NATO-Programm „Partnerschaft für den Frieden“ und 1997 eine Charta über eine „besondere Partnerschaft“, die man 2002 mit einem Aktionsplan auf eine breitere Basis stellte. Diese vorsichtigen gemeinsamen Aktivitäten wurden aber in Folge des sogenannten „Kutschma-Gate“ auf Eis gelegt, als dem Staatspräsidenten eine Verwicklung in die Ermordung des Journalisten Gongadse nachgewiesen worden war. Angesichts dessen und auch aufgrund weiterer massiver Demokratie-Defizite in der Ukraine kühlten die Kontakte zum Westen merklich ab.
Die Hindernisse I: Moskaus Wahlbeeinflussungen
Die russische Regierung griff bereits im Vorfeld der Orangenen Revolution in die ukrainische Politik ein. Absicht des Kremls war es, in Kyjiw eine Regierung zu installieren, die auf der Schiene Moskaus lief, also einen Statthalter einzusetzen. Dieses Modell praktizierte Russland bereits in Belarus, wo Alexander Lukaschenko als Kreml-loyaler Präsident ohne Unterbrechung seit 1994 herrscht. In der Ukraine sollte Janukowytsch ein solcher Statthalter werden. Und dafür waren offenbar viele Mittel recht.
Sein „orangener“ Gegenkandidat Juschtschenko wurde vor der ersten Runde der Präsidentschaftswahl am 31. Oktober 2004 mit Dioxin vergiftet – was geheimdienstliche Eingriffe unter Moskauer Steuerung nahelegt. Danach fiel Juschtschenko wochenlang für den Wahlkampf aus, bis heute ist er äußerlich entstellt.
Nach außen hin sollte es aber so aussehen, als ob die Wahlen in der Ukraine ohne Moskauer Eingriffe ablaufen. Das stellte der russische Staatspräsident Wladimir Putin jedenfalls so dar, als er im Dezember 2004 auf Staatsbesuch in Deutschland war. Hier erklärten er und der damalige Kanzler Schröder übereinstimmend, die angesetzten Stichwahlen im Dezember 2004 in der Ukraine sollten ohne Einmischung von außen stattfinden. Schröder betonte, er sei sich mit Putin auch einig, dass der Ausgang der Wahl auf jeden Fall anzuerkennen sei.
Kurzzeitig akzeptierte der Kreml den „orangenen“ Sieg dann tatsächlich, bloß um bei den Parlamentswahlen im Frühjahr 2006 wieder Druck auf Kyjiw auszuüben. Im Vorfeld dieser Wahlen kam es nämlich zur Jahreswende 2005/06 zu einem „Gaskrieg“ zwischen Russland und der Ukraine, als der russische Konzern Gazprom den Gaspreis für das Nachbarland um das Fünffache anhob und den Export in die Ukraine einstellte. Auch dies beförderte den Sieg des Kreml-Kandidaten Janukowytsch bei den Parlamentswahlen. In der Folge wurde Janukowytsch zunächst Ministerpräsident, bis er es bei der nächsten Präsidentenwahl 2010 letztlich doch ins Präsidentenamt schaffte. Seine Politik wurde der Auslöser für die nächste zivilgesellschaftlichen Bewegung in der Ukraine, den Euromaidan 2013/14, in dessen Folge er abgesetzt wurde und im Februar 2014 nach Russland floh.
Die Hindernisse II: NATO-Skepsis und Skepsis in der NATO
Nach der Orangenen Revolution unternahm Juschtschenko Versuche, die Schaukelpolitik Kutschmas abzulösen durch eine West-Anbindung. 2005 etwa unterzeichnete er einen EU-Ukraine-Aktionsplan. Eine weitere Anbindung konnte er aber nicht erreichen, schon gar nicht an die NATO. Zum einen wurden Widerstände dagegen im Land spürbar: 2005 sprachen sich nur 12 Prozent der Ukrainerinnen und Ukrainer für eine NATO-Bindung aus, auch 2008 war eine Mehrheit weiter gegen einen NATO-Beitritt – die öffentliche Meinung sollte sich erst mit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim durch Russland im Jahr 2014 drehen.
Zum anderen wurde die „orangene“ Präsidentschaft an einer NATO-Verankerung gehindert, als Janukowitsch im August 2006 Ministerpräsident wurde. Er setzte durch, dass ein NATO-Beitritt durch ein Referendum bestätigt werden müsse – was wegen der genannten öffentlichen Meinungen kaum realisierbar schien.
Die NATO-Anbindung der Ukraine scheiterte aber auch an Vorbehalten im Westen: 2008 erhielten die Ukraine und Georgien zwar auf dem NATO-Gipfel in Bukarest eine Beitrittsperspektive, aber gegen eine solche sprach sich der russische Staatspräsident genauso aus wie Frankreich und Deutschland, weil Letztgenannte den Kreml nicht provozieren wollten.
Erst 2019, unter dem westlich orientierten Staatspräsident Poroschenko (2014–2019), verankerte die Ukraine die Mitgliedschaft in der EU und in der NATO in der Verfassung als Staatsziele. Was eine damalige Aufnahme in die NATO für den jetzigen Krieg bedeutet hätte, ist eine Frage, die sich nun nicht mehr stellt.
Die kurzfristigen Folgen: Die Orangene Revolution frisst ihre Kinder
Die „orangenen“ Kräfte um Juschtschenko zerstritten sich innerhalb kürzester Zeit. Hintergrund war der Machtkampf zwischen Präsident Juschtschenko und Premierministerin Julia Tymoschenko, die ihn während der Orangen Revolution noch unterstützt hatte. Im September 2005 löste Juschtschenko wegen angeblicher Korruption die Regierung Tymoschenko auf. Somit war die „Orangene Koalition“ nach nur einem halben Jahr beendet.
Nach den Parlamentswahlen im März 2006 folgte eine nächste politische Krise, aus der schließlich Juschtschenkos Rivale Janukowytsch als neuer Premierminister hervorging. Die ständigen Auseinandersetzungen zwischen dem Präsidenten und der Regierung belasteten die Politik in den Monaten darauf so stark, dass die Reformen, auf die viele im Zuge der Orangenen Revolution gehofft hatten, nicht umgesetzt werden konnten.
Juschtschenko erlebte schließlich bei den Präsidentschaftswahlen 2010 ein Desaster, als er mit 5,45 Prozent das schlechteste Wahlergebnis eines amtierenden Präsidenten in der Ukraine erzielte. Die Wähler gaben ihm die persönliche Verantwortung für das „orangene“ Scheitern. Der obsiegende Janukowytsch hatte nach seiner erfolglosen Präsidentschaftskandidatur 2004 nur auf die sich ihm bietende Chance warten müssen.
Die langfristige Perspektive: Eine historische Einordnung der Revolution
Die Orangene Revolution war kein Ereignis, das sich plötzlich ohne Vorbereitung und Vorgeschichte ergeben hat. Bereits zuvor hatte es eine zivile Protestbewegung gegen Kutschma gegeben, das heißt, die Zivilgesellschaft in der Ukraine hat sich im Laufe der Zeit immer besser formiert – und sie hat an Erfahrung gewonnen. Mit dem durch sie herbeigeführten Regierungswechsel 2004/05 erkannte sie, dass man tatsächlich etwas erreichen konnte, wenn man einen Massenprotest mobilisiert. Diese Erfahrung wurde dann wichtig bei der nächsten Revolution in Kyjiw, dem sogenannten Euromaidan ab November 2013.
Wenn man die Zivilbewegung in der Ukraine vergleicht mit ähnlichen Bewegungen in Belarus und Russland, so hat sie in der Ukraine zwei Mal – durch die Orangene Revolution 2004/05 und durch die Revolution der Würde, den Euromaidan 2013/14 – einen Regierungswechsel herbeigeführt. In Russland und in Belarus gelang Ähnliches nicht, auch weil dort der politische Druck auf die Protestierenden stärker war. Hingegen hatten die Protestbewegungen in der Ukraine eine größere Kraft, und sie bewirkten eine tiefere Politisierung der Gesellschaft: In der Ukraine regier(t)en seit 1991 insgesamt sechs gewählte Präsidenten aus unterschiedlichen politischen Lagern, in Belarus ein einziger seit 1994, in Russland hat – trotz der zwischenzeitlichen Präsidentschaft Dimitri Medwedews –seit dem Jahrtausendwechsel de facto ebenfalls nur ein einziger die Macht inne, Putin.
Die Orangene Revolution hat somit zumindest einen kurzfristigen politischen Richtungswechsel durch einen Präsidentenwechsel geschafft. Dennoch war sie nicht nachhaltig. Vielen Ukrainerinnen und Ukrainern ist sie als Projekt in Erinnerung, das von zu wenigen Kräften getragen wurde, deren Reformwillen sich gegen eine rückwärtsgewandte politische Elite nicht durchsetzen konnte. Dennoch war die Orangene Revolution eine Etappe, die das allgemeine Verständnis von Resilienz gestärkt hat, die letztlich auch einen tragenden Pfeiler im Freiheitskampf der Ukraine von heute bildet.
Kommentare von Katrin Boeckh