Er hat das Schicksal Europas im 20. Jahrhundert maßgeblich mitbestimmt, nun, 85 Jahre nach seinem Abschluss, ist der Molotow-Ribbentrop-Pakt erneut Gegenstand heftiger Kontroversen. Insbesondere der Kreml macht damit Politik, weil im gegenwärtigen Russland der öffentlichen Erinnerung an den „Großen Vaterländischen Krieg“ eine staatstragende und propagandistische Bedeutung zukommt.

Die westeuropäische Diplomatie geriet in Schockstarre, als Hitler den Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop am 23. August 1939 in Moskau einen Nichtangriffspakt mit der Sowjetunion unterzeichnen ließ. Für die sowjetische Seite signierte deren Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten, Wjatscheslaw Molotow (1890–1986). Die Übereinkunft war für Hitlers Pläne im Osten grundlegend, denn der Pakt garantierte eine gegenseitige Neutralität bei Konflikten mit Dritten. Damit war der deutsche Angriff auf Polen eingepreist. Ein Zusatzprotokoll, über das Stillschweigen vereinbart worden war, teilte Ostmitteleuropa in deutsche und sowjetische Einflusssphären auf: Finnland, Estland und Lettland wurden der Sowjetunion zugeordnet, Polen wurde provisorisch geteilt, und der Sowjetunion wurde der Anspruch auf Bessarabien attestiert. Das territoriale Feintuning folgte in Form des deutsch-sowjetischen Grenz- und Freundschaftsvertrages vom 28. September 1939 und schlug Litauen in einem Geheimprotokoll dann ebenfalls der Sowjetunion zu.

Der Pakt ermöglichte Stalin die imperiale Wiederherstellung der westlichen Grenzen des ehemaligen russländischen Reiches und Hitler die Ausweitung des Krieges nach Osten durch den Angriff auf Polen am 1. September 1939. Einige Tage später, am 17. September, okkupierte die Rote Armee Ostpolen. Nach Beistands- und Stationierungsverträgen mit den baltischen Staaten im Jahr 1939 folgte 1940 die sowjetische Besetzung und staatliche Übernahme. Rumänien musste im Juni 1940 Bessarabien und die Nordbukowina an die UdSSR abtreten, Finnland nach dem Winterkrieg 1939/40 große Teile Kareliens. Die sowjetischen Annexionen wurden durch inszenierte „Volksabstimmungen“ legalistisch begründet, Deportationen und Erschießungen von Gegnern dieser ersten Sowjetisierung folgten flächendeckend. Dazu gehört auch das Massaker an mehreren tausend polnischen Militärangehörigen bei Katyń 1940 durch den sowjetischen Geheimdienst.

Der Pakt der Diktatoren hielt nicht lang. Hitler brach ihn, als er am 22. Juni 1941 die Sowjetunion, sein eigentliches Ziel im Osten, angriff. In einer erst Tage später gehaltenen Rundfunkansprache über den deutschen Angriff begründete Stalin den Pakt damit, dass er seinem Land Zeit verschafft habe, um sich auf einen Krieg gegen Deutschland vorzubereiten. An diesem Narrativ hielten sowjetische Politiker fast bis zum Kollaps der Sowjetunion 1991 beharrlich fest; das aggressive Vorgehen gegen Polen, die baltischen Staaten, Finnland und Rumänien erwähnten weder Stalin noch seine unmittelbaren Nachfolger. Und mehr noch: Nach dem Ende des Krieges, der, so schätzt man grob, in der Sowjetunion allein 25 bis 30 Millionen Menschen das Leben gekostet hatte, blieben die im Pakt von der UdSSR beanspruchten Territorien und Staaten sowjetisch. Stalin behielt, was er mit Hitler ausgemauschelt hatte, unter Zustimmung der Westmächte.

Der Kalte Krieg und die „Geschichtsfälscher“

Der Kalte Krieg war von Anfang an auch ein Krieg der Worte und der Propaganda seitens der Siegermächte – und der heftigen Schuldzuweisungen über die Vorbereitung des Krieges. 1948 ließ Stalin die Schrift „Geschichtsfälscher“ veröffentlichen, in der er die amerikanische sowie britische und französische Außenpolitik bezichtigte, die eigene Verantwortung dafür, die Voraussetzungen der nationalsozialistischen Aufrüstung ermöglicht zu haben, unter den Teppich zu kehren. Dem Kreml lag daran, die Sowjetunion als friedliebenden, anti-imperialistischen Staat zu zeichnen, der das Selbstbestimmungsrecht der Völker achte und Europa durch den Sieg im „Großen Vaterländischen Krieg“ gerettet habe. Die Erwähnung der 22-monatigen Allianz mit Hitler störte hier.

Während sowjetische Geschichts- und Schulbücher die Existenz des Paktes nicht leugneten, schon weil er seinerzeit in der sowjetischen Presse abgedruckt gewesen war, verschwiegen sie die sowjetischen Besatzungsherrschaften ab 1939 und der Terror in den okkupierten Regionen entweder oder dichteten sie um zu einer sowjetischen Wohltat zugunsten der Brüdervölker und -staaten. Die an die Parteilinie gebundenen Politologen in der UdSSR erklärten den Pakt als Chance für Stalin, der zum Abschluss gezwungen worden sei, um das Land auf den Krieg gegen Hitler vorzubereiten. Das Zusatzprotokoll stellte der Kreml stets in Abrede, weil damit auch die Verbrechen in den ab 1939 besetzten Regionen Ostmitteleuropas auf den Tisch gekommen wären.

Entgegen der Karikatur von Clifford Berryman für den Washington Star (1939) blieb es eine kurze Fernbeziehung, Hitler und Stalin trafen sich nie persönlich.

Die Verschleierungstaktik war auch deswegen anwendbar, weil man die Original-Texte lange nicht orten konnte. Kopien wurden zunächst auf den Nürnberger Kriegsverbrecher-Prozessen vorgelegt, wo sich der Angeklagte Ribbentrop auf den Pakt und das Geheimprotokoll berief. Allerdings bewertete der sowjetische Chefankläger die Kopien des Zusatzprotokolls als eine antisowjetische Fälschung. Dass man kein Original im Archiv des Auswärtigen Amtes fand, liegt daran, dass es offenbar verbrannt wurde, nachdem es auf Befehl Ribbentrops zusammen mit anderen Unterlagen verfilmt worden war. Kurz vor Kriegsende wurden die Filme nach Thüringen gebracht, aber nicht, wie befohlen, vernichtet, sondern britischen und amerikanischen Stellen überlassen, bis sie 1965 an Deutschland zurückgegeben wurden. Dass Originale auch in sowjetischen Archiven lagen, stritten sowjetische Repräsentanten vehement ab.

Die Wahrheit will ans Licht

Erst Michail Gorbatschow und seiner ab Mitte der 1980er Jahre auf Transparenz und Erneuerung ausgelegten Politik ist es zu verdanken, dass man in der Sowjetunion offen über die Verbrechen Stalins sprechen konnte. Insbesondere die nach Demokratisierung und nach Unabhängigkeit von der UdSSR strebenden baltischen Länder waren es, die darauf drangen, den Hitler-Stalin-Pakt neu zu bewerten und die Annexionen im Baltikum als völkerrechtswidrig einzustufen. Anlässlich der 50-jährigen Wiederkehr der Paktunterzeichnung am 23. August 1989 formierten rund zwei Millionen Personen im Baltikum eine mehr als 600 Kilometer lange Menschenkette; etwas Ähnliches hatte es in der UdSSR zuvor nie gegeben. 2009 wurde der als längste Menschenkette der Welt bekannte „Baltische Weg“ in das Weltdokumentenerbe der UNESCO aufgenommen.

Zeitgleich mit den Ereignissen im Baltikum gelangte im Sommer 1989 eine in Moskau am Kongress der Volksdeputierten einberufene Historikerkommission zur bahnbrechenden Erkenntnis, dass das Geheimprotokoll zwischen der Sowjetunion und Deutschland tatsächlich existiert habe. Es sei dem Nichtangriffspakt zwischen der UdSSR und Deutschland beigefügt worden. Allerdings habe die sowjetische Führung – gemeint ist Stalin – seinerzeit weder die kommunistische Partei noch die Staatsorgane darüber informiert; es sei auch nicht durch den Obersten Sowjet ratifiziert worden. Das Geheimprotokoll vom 23. August 1939 sei daher vom Moment seiner Unterzeichnung an als ungültig anzusehen; der Pakt vom selben Tag, der Freundschafts- und Grenzvertrag vom 28. September 1939 und weitere Abkommen mit Deutschland seien mit dem Überfall auf die UdSSR außer Kraft getreten.

Die nächste Anerkennung der historischen Ereignisse folgte, als sich schließlich doch die Originale des Paktes und des Protokolls fanden. Sie lagen, obwohl lange bestritten, im Archiv der Außenpolitik der UdSSR. 1990 wurden sie im Quellenband „Das Jahr der Krise. 1938–1939“, herausgegeben vom russländischen Außenministerium, mit genauem Fundort abgedruckt. Die Diskussionen jener Jahre bewirkten, dass sich in der Öffentlichkeit ein geteiltes Meinungsbild ergab, das noch Jahre danach anhielt: Bei einer Umfrage 2003 gaben 52 Prozent der Russen an, sie wüssten über die Diskussionen zum Geheimprotokoll des Hitler-Stalin-Paktes Bescheid, ein Viertel hielt es aber für gefälscht. Etwa 40 Prozent der Befragten billigten den Pakt, ohne ihn inhaltsweise zu kennen.

Re-Stalinisierung

Die Stalinsche Geschichtssicht erlebte eine Revitalisierung, als Putin 2000 das Amt des Staatspräsidenten der Russischen Föderation übernahm. Weit mehr als sein Vorgänger Jelzin schrieb er dem sowjetischen Triumph im Zweiten Weltkrieg eine staatstragende Bedeutung zu. Wie schon unter Stalin, aber auch unter Chruschtschow und Breschnew, erhielt der Sieg die Bedeutung eines patriotischen und identitätsstiftenden Ereignisses zurück, das dem Staat, seinen Regierungen und seinem Militär Legitimation verschaffen sollte. Stalin selbst erhielt wegen seines militärischen Sieges unter Putin wieder öffentliche Ehrungen, die von ihm zu verantwortenden Staatsverbrechen gerieten in den Hintergrund, ihre Umsetzung durch die Geheimdienste ebenfalls. Die Öffentlichkeit sollte so im besten sowjetischen Sinn eine Rechtfertigung für die unter Putin seit Jahren forcierte Militarisierung bekommen. Einer Bevölkerung, deren Grundversorgung nie und bis heute nicht den Standard des Westens erreichte, mit dem sich die Moskauer Regierungen aber immer verglichen, mussten die hohen Ausgaben für die Rüstung plausibel erklärt werden.

Geschichte wurde zum staatlichen Propagandainstrument. In Bezug auf die Vorgeschichte des Weltkrieges wies Putin westliche Kritik am Hitler-Stalin-Pakt zurück, weil er befürchtete, dies würde den sowjetischen Sieg entwerten. Er betonte, der Pakt sei ein defensiver Akt gewesen, und nahm damit Stalin aus jeglicher Mitverantwortung für den Kriegsausbruch. Verantwortlich seien vielmehr die Westmächte, die 1938 durch das Münchner Abkommen Hitler den freien Zugriff auf die Tschechoslowakei zugestanden hätten. Seine Ansichten ließ er auch in westlichen Medien verbreiten.

Ab 2012 musste sich Putin einer anwachsenden Protestbewegung und schwindender Zustimmungswerte in Russland erwehren. Die Beschwörung der russischen Größe in der Vergangenheit sollte einen sinkenden Lebensstandard vergessen machen, der erste militärische Übergriff auf das Nachbarland Ukraine 2014 von der schwindenden Wirtschaftskraft ablenken. Die völkerrechtswidrige Annexion der Krim wurde mit Straßenfesten in Moskau gefeiert. Im selben Jahr erklärte Putin öffentlich, der Hitler-Stalin-Pakt sei keine schlechte Idee gewesen. Außerdem seien die damaligen britischen, italienischen und französischen Regierungschefs durch die Unterschrift unter das Münchner Abkommen 1938 für Hitlers weiteres Vorgehen verantwortlich gewesen.

Zu Kontroversen kam es immer dann, wenn ein markanter Jahrestag des Paktes nahte. Am 19. September 2019 bezeichnete das Europäische Parlament in Brüssel in einer Entschließung zur Bedeutung des europäischen Geschichtsbewusstseins den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges als unmittelbare Folge des Hitler-Stalin-Pakts. Wenig erfreulich für den Kreml war, dass hier auch die Aufarbeitung der Stalinschen Verbrechen gefordert wurde, vergleichbar wie dies bei den Nürnberger Nachkriegsprozessen mit den Nazigrößen geschehen sei. Die russische Regierungssprecherin Maria Sacharowa kommentierte dies in Vertretung des russischen Außenministeriums als eine „weitere Runde grober Geschichtsfälschung“, eine „Ansammlung revisionistischer Behauptungen“ und als Versuch, die Sowjetunion mit NS-Deutschland gleichzusetzen. Sie wiederholte unter anderem auch die Behauptung, dass Polen, das 1934 einen Nichtangriffspakt mit Deutschland eingegangen war, zusammen mit der Beschwichtigungspolitik der westlichen Staaten Hitlers Ostfeldzug provoziert habe. Das Kalkül hinter den Anwürfen gegenüber Polen, das Opfer der NS- und der Stalinschen Aggression war, lautet, dass die sowjetischen Verbrechen gegen Polen weniger schwer wiegen, je mehr Schuld Polen selbst habe. 

Putins Antwort auf die Brüsseler Entschließung bestand in einem am 19. Juni 2020 veröffentlichten längeren Essay anlässlich des 75. Jahrestages des „Großen Sieges“. Hier wies er beharrlich jegliche sowjetische Mitschuld am Kriegsausbruch von sich und verwies stattdessen auf die Zugeständnisse der Westmächte im Münchner Abkommen. Diese seien zusammen mit Polen die eigentlichen Kriegsförderer gewesen. Er verstieg sich auch zur Behauptung, die Inkorporierung Estlands, Lettlands und Litauens durch die UdSSR habe den „Normen des damaligen Staats- und Völkerrechts“ entsprochen; dem nota bene völkerrechtswidrigen Akt hätten die baltischen Behörden sogar zugestimmt. Die Gewaltakte unter anderem des sowjetischen Geheimdienstes NKWD unterschlägt der Essay.

Historikerinnen und Historiker in Russland haben es dieser Tage schwer, frei über Kriege zu schreiben. Dies gilt sowohl für den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine als auch für den Zweiten Weltkrieg, dessen Interpretation nicht disputabel ist. Gleichzeitig stellt ein 2021 erlassenes Gesetz unter Strafe, NS- und stalinistische Handlungen gleichzusetzen. Das Narrativ setzt der Kreml fest. Der beharrliche Verweis auf den feindlichen Westen und auf dessen im Pakt belegte Kriegsabsichten zieht im Jahr 2 nach dem Überfall auf die Ukraine eine Parallele zur Gegenwart, denn Russland führe wie damals einen „defensiven“ und „gerechten“ Krieg gegen die „Faschisten“ in Kyjiw, die „Helfershelfer der NATO und der USA“. Mit dieser Argumentation wiederholt Putin Stalins Standpunkt, den er seinerzeit erfolgreich durchgesetzt hatte.


Eine komprimierte Version dieses Beitrags erschien am 23.8.2024 online bei DER SPIEGEL.